Man säuft sich nicht Gehirnzellen weg, man zerstört das Frontalhirn
Steter Tropfen führt zu irreversibler Demenz
von Werner Schneider
Der Mensch hat ein Frontalhirn – das sollte er schützen. Denn, so der Leiter des Zentrums für Suchtmedizin an der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz, Primarius Univ.-Prof. Dr. Martin Kurz, das säuft man sich nicht Zelle für Zelle pro Vollrausch weg, wie der Volksmund meint, es stirbt aber bei länger anhaltendem Alkoholmissbrauch. Selbst da gibt es noch einen Hoffnungsschimmer: Das Hirn regeneriert fast wie die Leber, wenn man nach dem Entzug konsequent abstinent bleibt. Nur wenn einmal die Alkoholdemenz fortschreitet, dann sagt das Frontalhirn endgültig „gute Nacht“.
„Alk-Info“: Herr Professor Kurz, manchmal wird im Scherz gesagt ‚gestern habe ich mir bei einem Rausch wieder 20.000 Gehirnzellen weggesoffen‘. Darüber wird dann in Gesellschaft gelächelt, aber wie groß ist die Gefahr tatsächlich bei einem Vollrausch mit Blackout?
Primarius Univ.-Prof. Dr. Martin Kurz: Die individuelle Empfindlichkeit in Bezug auf Alkoholwirkung macht’s nahezu unmöglich eine Art von Zellzahl, die untergeht zu benennen. Nachdem das Gehirn permanent in Auf- und Umbau begriffen ist, kann man das so nicht sagen. Alkoholrausch ist auf jeden Fall etwas, das das Gehirn in seiner Funktion beeinträchtigt, aber wenn die Alkoholräusche sich in Grenzen halten und nur hin und wieder passieren, wird das Gehirn darunter nicht maßgeblich leiden.
Ab wann beginnt das Gehirn zu leiden, wie groß muss da der Alkoholkonsum sein?
Es geht da mehr um die Regelmäßigkeit, es gibt von der WHO (World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation, Anm.) Grenzwerte, die liegen beim Mann bei ca. 60 Gramm Alkohol pro Tag, das ist regelmäßig gemeint, das sind drei Halbe Bier pro Tag. Wenn man diese Grenzwerte ständig überschreitet, steigt die Wahrscheinlichkeit von Schädigungen, und zwar im ganzen Körper aber auch im Nervensystem, im Gehirn. Da geht es dann wirklich darum, dass der Körper und das Gehirn keine Möglichkeiten mehr haben, sich zu erholen. Das ist der entscheidende Punkt. Kontinuierlich überhöhter Konsum schädigt im Körper jede Zelle, ganz besonders Nervenzellen im Gehirn.
Da gibt es die verschiedenen Phasen im Zuge einer Alkoholikerkarriere, der eine wird weinerlich, verfällt in Selbstmitleid, andere werden aggressiv, welche Veränderungen oder Störungen im Gehirn treten da ein?
Was Alkohol in der Regel macht ist, dass er ab einer größeren Menge jede Funktion beeinträchtigt. Und ein wesentlicher Teil des Gehirns, der unser Verhalten steuert, ist das Frontalhirn. Das Frontalhirn steuert zum Beispiel die Impulskontrolle. Es steuert, welche Emotionen aus tiefer liegenden Regionen des Gehirns hervortreten und da ist jeder von uns anders gestrickt. Das Frontalhirn reguliert auch tiefer liegende, unaufgearbeitete Konflikte oder depressive Grundneigungen, erhöhtes prinzipielles Aggressionspotential. Das sind Dinge die genetisch oder aus der Lebensgeschichte stammen und ihre Kontrolle ermöglichen uns ein sozial verträgliches und realitätsangepasstes Verhalten zu haben. Und regulieren auch sehr stark die Affekte, also die Emotionen. Wenn das Frontalhirn beeinträchtigt ist, dann werden diese Funktionen außer Kraft gesetzt und dann kommt es zu Erscheinungen die man sonst im normalen Leben nicht hat. Da geht es nicht so sehr darum, dass im Frontalhirn Zellen zugrunde gehen sondern durch die Alkoholeinwirkung wird deren Funktion vorübergehend beeinträchtigt.
Ich nehme an, das beeinflusst auch so Verhaltensweisen wie ein Mangel an Empathie, eine immer stärker werdende Ich-Bezogenheit – das fällt da wohl auch darunter.
Man muss da unterscheiden zwischen akuter Alkoholeinwirkung, es gibt ja Menschen, die sind nicht alkoholkrank, aber die vertragen den Alkohol insofern nicht, dass die sich – wie Sie schon gesagt haben – in ihrem Verhalten deutlich verändern, auch schon bei geringeren Mengen. Das Entscheidende bei den Alkoholkranken ist ja, dass mit der Zeit die Frontalhirnfunktionen dauerhaft beeinträchtigt werden. Das heißt, wenn ich über Jahre zu viel Alkohol getrunken habe, dann bin ich auch in nüchternem Zustand über ein paar Wochen, wenn ich auch nichts trinke, in dieser Zeit in den Funktionen beeinträchtigt.
Ab wann tritt die so genannte alkoholische Demenz ein?
Bei der Alkoholdemenz ist das sehr unterschiedlich, meistens nach Jahrzehnten überhöhten Alkoholkonsums. Wobei Frauen, wenn sie sehr viel trinken über längere Zeit, für solche Beeinträchtigungen der Gehirnleistungen sehr viel anfälliger sind als Männer.
Nun zu einem positiven Aspekt: Wie regenerationsfähig ist das Gehirn? Oder sind solche Schädigungen irreversibel?
Also eine ausgeprägte Alkoholdemenz ist in der Regel irreversibel. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass Patienten, die viele Jahre lang alkoholkrank sind, dann aber abstinent werden, dass die Hälfte dieser Patienten zu Beginn der Abstinenz Beeinträchtigungen haben in der Hirnleistung, also bei Konzentration und Entscheidungsfähigkeit, aller dieser Dinge, die im Frontalhirn gesteuert sind. Die allermeisten dieser Patienten verlieren aber nach vier bis acht Wochen wieder diese Beeinträchtigungen. Die Botschaft ist: Das Gehirn ist enorm regenerationsfähig, nur in den Demenz-Endstadien ist die Regeneration nicht mehr gegeben.
Das heißt, das Gehirn verhält sich fast so ähnlich wie die Leber?
Genau. Es ist sehr interessant, wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Menschen mit schweren Leberzirrhosen, die bereits auf den Transplantationslisten stehen und vor der Transplantation eine Entwöhnung machen, wieder von der Transplantationsliste kommen.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Kurz, 50, ist gebürtiger Innsbrucker. Er leitet das Zentrum für Suchtmedizin an der Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) in Graz. Er ist seit 2008 Referent für Suchtmedizin der Tiroler Ärztekammer.
Foto: kages.at (1)