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Ein Alkoholiker als Lehrmeister
Wie ein geistiger Vater…

von Harald Frohnwieser

Hermann war mehr, als nur ein Freund, den man in einem AA-Meeting sprechen hört. Er war konsequent sich selbst gegenüber, aber verständnisvoll, wenn es um die kleinen oder größeren Fehler anderer ging. Er war belesen, er wusste viel, und er war spirituell durch und durch. Er spielte gerne und gut Schach, wobei er das Leben gerne mit dem königlichen Spiel verglich. Er hatte manchmal etwas von einem Guru, was man ihm aber nicht sagen durfte, den Gurus verachtete er. Er mochte nicht alle in den Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker, aber trotzdem war jeder sein Freund. Zumindest im Meeting. Ein Porträt über einen Menschen mit vielen Widersprüchen, für den Neid ein Fremdwort war und der einen stets motivieren konnte.

Äußerlich hatte er etwas von einem Mönch, aber mehr von einem buddhistischen als von einem katholischen. Stets schwarz gekleidet, sehr kurze Haare. Und wenn man ihn näher kannte, bestätigte sich dieser Eindruck. Reis war seine Hauptnahrung, Fleisch gönnte er sich ganz selten, höchstens, wenn er mal mit einem Freund essen ging, was aber sehr selten vorkam. Oder fast nie. Wenn er sprach, dann war der Zen-Buddhismus sein Lieblingsthema. Besonders die Meister-Schüler-Gespräche hatten ihn fasziniert. Wie zum Beispiel jene: Der alte Zen-Meister arbeitete im Klostergarten während der Mittagshitze. Da kam einer seiner Schüler und fragte ihn: „Meister, warum arbeitest du hier und nicht ein Anderer?“ Der Meister sah den Schüler kurz an und sagte: „Ich bin kein Anderer.“ Darauf der Schüler: „Aber warum arbeitest du jetzt, wo die Sonne ganz besonders heiß vom Himmel scheint?“ Der Meister meinte nur knapp: „Wann dann?“
Während man noch über den Sinn dieser Geschichte nachdachte, begannen Hermanns Augen zu leuchten und ein Schmunzeln zeigte, dass er sich bestens amüsierte. „Es ist“, sagte er schließlich, „wie mit dem Alkohol. Nur ich alleine kann aufhören mit dem Trinken, das kann kein anderer Mensch für mich erledigen. Und wann man als Süchtiger aufhören soll? Jetzt, sofort und nicht irgendwann. Denn dann wird nie etwas daraus, auch wenn man es sich noch so fest vornimmt.“
Ein Inserat, das alles veränderte
Auch er hatte, wie er manchmal erzählte, so aufgehört. Jetzt, und nicht später. In einem Krankenhaus war er gelandet, damals, nach einem alkoholbedingten Sturz. Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag auf dem kleinen Tisch im Krankenzimmer eine aufgeschlagene Tageszeitung. Das darin geschaltete Inserat stach ihm in die Augen. „Haben Sie ein Problem mit dem Alkohol? Dann kommen Sie zu uns!“, lautete der spärliche Text des Inserates, das jemand von den Anonymen Alkoholikern bezahlt hatte. „Das hat mir meine Höhere Macht geschickt“, sagte Hermann immer, wenn er von diesem Erlebnis erzählte.
„Hier sitzen alles Affen um den Tisch!“
Hermann, damals Mitte 50, ging hin, gleich am nächsten Tag, als er vom Spital entlassen wurde. Und er blieb. Sechs Mal die Woche besuchte er jeden Abend ein Meeting. „Zum Glück gibt es hier in der Stadt so viele verschiedene Gruppen“, freute er sich über das große Angebot. Doch obwohl er sich nur einen Abend ganz für sich alleine erlaubte, war er nicht mit allem, was er hier hörte, einverstanden. „Da gibt es viele Gurus“, sagte er manchmal mit einem zarten Lächeln. Und doch irgendwie abfällig. Denn Gurus, vor allem die selbsternannten, mochte er nicht. Ganz am Anfang war er nicht so diplomatisch. „Da hab ich oft in einem Meeting aus mir heraus geschrien, dass hier alles Affen rund um den Tisch sitzen. Und ich bin der größte Affe von allen, weil ich hier hinkommen muss“, erinnerte er sich. Er musste hinkommen, obwohl er nie einen Suchtdruck verspürte. Doch die Angst vor dem Rückfall, vor dem Alkohol war wohl zu groß. „Weißt du, was großartig ist? Die im Meeting haben das ausgehalten“, lächelte er zufrieden.
Beide Kinder auf Heroin
Schon einmal hatte er alles verloren. Die Frau weg, das Haus am Stadtrand weg, die große Karriere in der Firma ebenfalls weg. Alles wegen dem Saufen, wie er sagte. Die beiden Kinder waren erwachsen, aber irgendwie aus dem Nest gefallen. Der Sohn und die Tochter – beide auf Heroin. Mit der Tochter wohnte er in seiner Mini-Wohnung zusammen. „Eines späten Nachmittags lag sie auf dem Sofa und war total zugedröhnt. Ansprechbar war sie nicht und als ich ins Meeting ging, hatte ich keine Ahnung, ob ich sie noch lebend vorfinden werde, wenn ich heimkomme“, erzählte er von jenem Tag, den er nie vergessen konnte. Es klang hart. Die Tochter vielleicht am Sterben und der Vater geht in ein Meeting der Anonymen Alkoholiker! „Was hätte ich anders machen sollen?“, fragte er dann seinem Gegenüber, und das fragte er wohl auch sich selbst. „Ich habe schon so oft die Rettung gerufen wegen ihr, aber kaum war sie aus dem Spital hing sie wieder an der Nadel. Ich konnte einfach nicht mehr. An jenem Abend ging ich weniger für mich als für sie ins Meeting.“ Manchmal erzählte Hermann, dass er davon träume, nur noch einmal im Jahr ein Meeting zu besuchen, nur um zu zeigen, dass es ihm gut gehe. Zu mir sagte er deshalb auch oft: „Bleib nicht in der AA hängen. Du musst hinaus ins Leben!“
Starker Glaube an die Höhere Macht
Die Tochter kam kurz danach vom Heroin los, auch der Sohn wurde nach einem abenteuerlichen Segeltörn über den Atlantik clean. Beide sagten später, dass ihnen die bedingungslose Konsequenz des Vaters dabei geholfen hatte. Die Genesung der beiden Kinder gab ihm viel Kraft. Und stärkte seinen Glauben an eine Höhere Macht, von der in den Meetings so oft die Rede war. Schuldgefühle seinen Kindern gegenüber hatte er ohnehin genug. Sie hatten, als sie noch klein waren, kaum etwas von ihm. „Ich war ja nie da, auch wenn ich daheim war. Das Saufen hat meine Beziehung zu ihnen ruiniert“, kam er nie darüber hinweg. Einmal, erzählte er, sollte er den Sohn von der Schule abholen – und vergaß einfach darauf. Erst zwei Stunden später dämmerte es ihm in seinem Alkoholdusel, dass er das Kind längst heimbringen hätte sollen. „Ich fuhr hin zur Schule, und da saß er ganz verloren vor dem Eingang auf den Stufen. Den traurigen Blick des Buben werde ich nie vergessen.“ Dass er damals als Vater versagt hatte, konnte er sich nie verzeihen.
„Im Meeting ist jeder mein Freund!“
Vielleicht nahm es sich deshalb jeden Neuen an. Fragte ihn vor dem Meeting, was ihn hierher führt, ging nach dem Meeting, wenn erwünscht, mit ihm – oder mit ihr – noch auf einen Kaffee, wo er die Anonymen über alles lobte. Obwohl es manche gab, die er nicht so mochte. Aber: „Im Meeting ist jeder mein Freund“, sagte er gern.
So streng er auch sich selbst gegenüber war, so offen begegnete er jenen, die noch am Anfang ihrer neugewonnen Trockenheit standen. Auch der Autor dieser Zeilen durfte diese Erfahrung machen. „Super, du bist auf dem richtigen Weg“, motivierte er mich, wenn ich ihm von einem Erfolg, und sei es ein noch so kleiner, berichtet wurde. Einmal erzählte ich ihm, dass ich in meiner alten Firma war wegen einem kleinen Job. Und dass ich von der Ressortchefin vor allen anderen Kollegen, die ich zum Teil gar nicht kannte, als Alkoholiker bezeichnet wurde, dem es jetzt aber „Gott sei Dank wieder besser geht“. Ich erzählte im Meeting davon, aufgebracht, fertig. Ich sagte auch verbittert, dass ich da nie wieder hingehen werde. Nach dem Meeting grinste Hermann mich an. „Etwas Besseres konnte dir gar nicht passieren“, strahlte er mich an. Ich war fassungslos. Mir geschieht etwas derartig Unerhörtes, und er freut sich darüber? „Jetzt hast du es hinter dir, so etwas wird dir nie wieder passieren“, klärte er mich auf. Er sollte recht behalten.
Das Leben ist wie ein Schachspiel
Er selbst war in Pension. Die Bank, in der er arbeitet, wurde mit einem anderen Institut fusioniert, da blieb für ihn kein Platz mehr. Er hatte somit viel Zeit, die er mit lesen verbrachte. Und mit Schach. Einmal die Woche traf er sich mit einem Freund im Kaffeehaus, um mit ihm eine Partie zu spielen, und einmal im Jahr besuchte ihn dieser Freund zu Hause. Deshalb hatte er eine Flasche Whisky im Schrank. „Das macht mir nichts aus“, sagte er, „niemand zwingt mich dazu, sie zu trinken.“ Apropos Schach. Er verglich gerne das Leben mit dem königlichen Spiel. „Wenn ich einen Zug mache, muss ich abschätzen können, was mein Gegner tun wird. Das ist im Leben nicht anders. Man soll nichts beginnen, wenn man nicht den nächsten Schritt weiß.“
Die letzte Partie kam viel zu früh
Seine allerletztes Partie spielte er viel zu früh, kurz vor seinem Sechziger. Damals, vor mehr als 20 Jahren, begann das Freitags-Meeting ohne ihn, was ungewöhnlich war. Nachdem der Meetings-Sprecher zu Beginn fragte, ob jemand gleich etwas erzählen möchte, meldete sich eine Freundin zu Wort und sagte, dass sie Hermann vor zwei Tagen besuchen wollte und dabei von einem Nachbar erfuhr, dass er ganz plötzlich verstorben sei. Ein Schlaganfall, wie sich später heraus stellte. Ein Meeting ohne Hermann? Irgendwie unvorstellbar. Die letzte Begegnung mit ihm war am Sonntag davor gewesen. Bei der Verabschiedung sagte er mir, dass der Schüler, also ich, den Meister, also ihn, überholt habe. „Du stehst viel mehr im Leben als ich“, beantwortete er meine erstaunte Frage. „Du arbeitest und du hast wieder Anschluss an deine Familie gefunden“, sagte er. Dann aber grinste er: „Spirituell musst du freilich noch einiges lernen…“.
Auch damit hatte er recht.
Hermann fehlt immer noch. Seine positive Art, seine Freude, wenn man etwas geschafft hat, seine Anerkennung. Und seine Weisheit. Er war etwas Besonderes, ein Mensch, aus dem man nicht immer ganz schlau wurde, aber er war mehr als ein Freund, er war wie ein geistiger Vater. Und darauf kann man auch nach einer sehr langen Zeit immer noch stolz sein.