ÜBERFALL
Ein Besuch bei lieben Freunden. Es ist einige Zeit her, als man sie das letzte Mal sah. Umso größer die Freude, die Beiden endlich wieder einmal zu treffen. Nach dem Austausch der Neuigkeiten, die sich seit dem letzten Treffen angesammelt hatten, deckt die Gastgeberin den Tisch, der Gastgeber sorgt für die Getränke. Stellt Gläser und Mineralwasser und Saft auf den Tisch (schließlich weiß er von der Alkoholvergangenheit seines Freundes Bescheid) – und für sich und seine Frau je eine Flasche Bier. Kein Problem, wenigstens bis hierher. In meiner Gegenwart darf jeder trinken was er will, auch Alkohol. Aber: Nach dem Essen wird eine Flasche Wein geholt, die im Laufe des anregenden Gespräches von den Gastgebern leergetrunken wird. Um dann eine neue zu öffnen.
Als sich noch ein Freund der Gastgeber dazugesellt, wird eine neue Flasche geholt, die nun zu dritt geleert wird. Das Gespräch dreht sich mittlerweile nur noch um den Alkohol. Wie gut der Wein schmeckt, den man gerade trinkt und um wie viel besser der Wein noch im Urlaub, in Griechenland, Spanien oder Frankreich, mundete. Der Freund erzählt von seinem Umbau beim Haus, an dem einige Bekannte mithelfen. Und von den vielen Kisten Bier, die zur Labung der Arbeiter bereitstehen. Die Gastgeberin berichtet vom Besuch einer Freundin, mit der sie sich unlängst einen ordentlichen Schwips angetrunken hatte. Und der Gastgeber sagt, wie gut der Rotwein, den er regelmäßig trinkt, für seine Gesundheit sei. Um es kurz zu sagen, der ganze Abend dreht sich um den Alkohol, dessen Vorzüge unermüdlich gepriesen werden. Es ist wie ein blitzartiger Überfall, mit dem man nicht gerechnet hat.
Meine Toleranz, was das Trinken in meiner Gegenwart betrifft, ist inzwischen auf den Nullpunkt gesunken. Mir ist das ab einem gewissen Zeitpunkt einfach zu viel. Die leeren Weinflaschen auf dem Tisch, die Ansage, wie bekömmlich Alkohol sei, der Erfahrungsaustausch über die besten Weingegenden in Europa – Alkohol wurde leider zum einzig beherrschende Thema des Abends.
Kann man Rücksichtnahme verlangen?
Irritation macht sich breit. Die wissen doch, dass ich trockener Alkoholiker bin, die wissen, das mich der Alkohol aus der sozialen Bahn und unzählige Male ins Krankenhaus katapultierte. Die wissen, wie schwer mein trockener Wiedereinstieg ins Leben war. Und trotzdem wird der Stoff, aus dem meine bittersten Albträume wurden, in meiner Gegenwart glorifiziert. Verharmlost. Und unentwegt getrunken. Kann man Rücksichtnahme verlangen, kann man bitten, weniger zu trinken und das Thema zu wechseln?
Nach all den Jahren der Trockenheit bin ich da noch immer noch ein wenig hilflos. Einerseits leben wir in einer Gesellschaft, in der der Alkohol allgegenwärtig ist, in der es normal ist, dass getrunken, gefeiert und darüber positiv geredet wird. Andererseits leben wir auch in einer Gesellschaft, in der verhältnismäßig viele Menschen schwerwiegende Probleme mit dem Alkohol haben. Die nicht nur ein bisschen was über den Durst trinken, sondern dabei sind, sich um Kopf und Kragen zu saufen. Oder diesen Schritt längst vollzogen haben. Man denke nur an die Supermärkte im Bahnhofsbereich. Während sich im Geschäft in den Regalen unzählige Bier-, Wein-, Wodka- oder Schnapsflaschen zum Verkauf anbieten, saufen sich vor dem Gebäude Alkoholiker unermüdlich Schluck für Schluck ins Elend.
Kann man den Alkohol wirklich glorifizieren? Noch dazu in Gegenwart von jemandem, den der Alkohol einst die ganze Existenz nahm? Ich meine, niemand käme ernsthaft auf die Idee, sogenannte Vorzüge von harten Drogen zu preisen. Wie schön es sei, die wohltuende Wirkung von Heroin zu spüren. Wie beflügelnd es sei, mithilfe von Kokain kreative Höhenräusche zu erleben oder wie aufregend es sei, mittels der aufputschenden Wirkung von Ectasy eine ganze Nacht lang durchzutanzen. Und das alles in Anwesenheit eines ehemaligen Drogenkranken, der die brutalen Auswirkungen dieser Substanzen nur zu gut kennt.
Szenenwechsel gibt es nicht
Beim Alkohol ist das alles anders. Da drehen sich die Gespräche von Menschen, die man mag und sehr schätzt, plötzlich überfallsartig um Bier, Wein und den letzten Rausch, den sie hatten. Und man kommt dem schwer aus, will man seine sozialen Kontakte pflegen. Junkies oder Kokser haben es sicher nicht leicht, von ihrer Droge loszukommen, der Entzug ist die Hölle, der Wiedereinstieg ins Leben ist alles andere als leicht. Aber sie haben immerhin die Möglichkeit, die Szene zu wechseln. Und laufen kaum in Gefahr, dass einem Treffen mit den Meiers von Nebenan permanent ihre ehemaligen Drogen in den Himmel gepriesen werden.
Ein Alkoholiker hat es da ungleich schwerer. Auch wenn er die Schnapsbuden von früher meidet wie der Teufel das Weihwasser, auch er möchte seine sozialen Kontakte pflegen. Aber egal ob bei den Meiers von Nebenan, bei den Kollegen in der Firma, den Freunden beim Verein oder bei Familientreffen – der Alkohol ist allgegenwärtig. Und es gehört einiges an Kraft dazu, ein Fels in der Brandung zu sein und trocken seinen Weg weiterzugehen, wenn der Alkohol als seligmachender Genuss unermüdlich schön geredet wird. Denn einen Szenenwechsel gibt es nicht. Gerade deshalb darf ein wenig Rücksichtnahme verlangt werden. Nichts gegen das eine Bier oder die zwei Gläser Wein, die in Anwesenheit eines trockenen Alkoholikers getrunken werden. Aber es muss ja nicht jedesmal zu einem Saufgelage kommen, wenn man sich mit ihm trifft.
Ihr Harald Frohnwieser