Rätselhaftes Auto-Brewery-Syndrome (ABS)
Wenn der Körper Alkohol erzeugt
von Harald Frohnwieser
Betrunken zu sein ohne Alkohol zu konsumieren? So unglaublich es klingt, aber das gibt es. Bei einigen Menschen wandelt der Darm Kohlenhydrate in Alkohol um und macht sie betrunken, ohne zu Bier, Wein oder Spirituosen gegriffen zu haben.
William A. fuhr in Schlangenlinien auf einer Bundesstraße im US-Bundesstaat Ohio – und geriet prompt in eine Verkehrskontrolle. Was dann passierte, hatten die Polizisten schon oft erlebt: der Autofahrer stritt ab, auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich genommen zu haben, obwohl er kaum gerade stehen konnte und lallte. Doch der 46-jährige US-Amerikaner blieb dabei, obwohl ein Bluttest, zu dem William in ein Krankenhaus gebracht wurde, satte zwei Promille ergab. Dafür hätte er innerhalb einer Stunde zehn Drinks konsumieren müssen.
Doch so unglaublich es klingt, aber William A. hatte an diesem Tag tatsächlich kein alkoholisches Getränk zu sich genommen. Er litt, wie Wissenschaftler erst viele Jahre später herausfanden, am Auto-Brewery-Syndrome (auf deutsch Eigenbrauer-Syndrom), kurz ABS oder Gut Fermentation Syndrome genannt. Bei dieser Krankheit wandelt der menschliche Körper Kohlenhydrate, die eingenommen werden, in Alkohole wie Butanol, Methanol und Ethanol um. Bei einer Untersuchung, die bei William A. durchgeführt wurde, konnten Wissenschaftler in dessen Darm Hefe nachweisen, die Kohlenhydrate in Alkohol umwandelte. Kurz gesagt: Williams Körper ist seine eigene Bier-Brauerei. Der vom Darm erzeugte Alkohol gerät so in die Blutbahn, macht ihn betrunken und schädigt obendrein die Leber und andere wichtige Organe. Eine Krankheit, die somit durchaus lebensbedrohlich werden kann.
Riechen nach Alkohol und sind schläfrig
„Bei diesen Patienten zeigen sich die gleichen Auswirkungen wie beim Alkoholkonsum: ihr Körper und Atem riechen nach Alkohol, ebenso sind sie schläfrig“, stellt Fahad Malik von der Universität in Alabama, USA, der eine umfangreiche Studie geleitet hat, um dem rätselhaften Auto-Brewery-Syndrome auf die Spur zu kommen. Im Fall William machten die Wissenschaftler eine Kur mit Antibiotika verantwortlich, die dem Bauarbeiter nach einer Verletzung am Daumen verordnet wurde. Dadurch dürfte es zu einer Veränderung im Verdauungstrakt gekommen sein.
Als erste Therapie legten Ärzte dem 46-Jährigen nahe, zunächst einmal auf Kohlenhydrate wie Nudeln, Pizza oder Kartoffeln zu verzichten, was allerdings nichts brachte, Williams Körper produzierte den Alkohol nach wenigen Wochen munter weiter. Erst als ihn die Wissenschaftler der Universität in Alabama mit den beiden Medikamenten Antimykotika und Probiotika behandelten, konnte William von seiner Krankheit geheilt werden. Fahad Malik und sein Team schrieben in der Studie: „Rund eineinhalb Jahre später zeigt er keine Symptome mehr, er konnte seinen früheren Lebensstil wieder aufnehmen. Heute ernährt er sich wieder normal und muss lediglich sporadisch seinen Atemalkoholspiegel überprüfen.“
Wissenschaftler mit Therapie zufrieden
Zum Abschluss ihrer Studie, die sie bei William A. durchführten, zeigten sich die Studienautoren mit ihrem Ergebnis sehr zufrieden. „Nach Abschluss der sechswöchigen Antimykotika-Behandlung wurde der Proband angewiesen, seinen Atemalkoholspiegel weiterhin zweimal täglich zu überwachen und die Ärzte über alle positiven Ergebnisse zu informieren. Es wäre ideal, wenn Patienten mit ABS vor einer Erhöhung der oralen Kohlenhydrataufnahme einen anderen Kohlenhydrat-Provokationstest durchführen würden. Unser Patient hat weder einen erhöhten Blutalkoholspiegel noch einen Anstieg der Alkoholwerte festgestellt, wenn er erneut mit 200 Gramm Kohlenhydraten in Kontakt gebracht wird. Seine wiederholten Magen-Darm-Sekrete zeigten keine Pilze“, stellten die Studienautoren fest.
Umwandlung in Alkohol durch Hefepilz
Ein anderer US-Bürger musste gar mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Ärzte schenkten zunächst seinen Beteuerungen, keinen Alkohol getrunken zu haben, keinen Glauben. Doch als der Mann eingehend untersucht wurden, stellten die Mediziner fest, dass sich in seinem Stuhl ein Hefepilz befand, der den Zucker, der sich in Kohlenhydrate und in Getränken befindet, in Ethanol umwandelt. Dem Patienten wurden nun während eines Zeitraums von 24 Stunden regelmäßig und unter strenger Überwachung Traubenzucker und zuckerhältige Lebensmittel zugeführt. Dabei konnte beobachtet werden, wie die Blutalkoholkonzentration anstieg. Bei der Therapie wurden dem Mann mehrere Medikamente und Bakterien verabreicht, die schließlich eine positive Wirkung zeigten.
Erstmals in Japan diagnostiziert
Das ABS-Syndrom wurde erstmals in den 1970er Jahren von Forschern in Japan diagnostiziert. Zehn Jahre später wurde die Krankheit in den USA zum ersten Mal festgestellt. Allzu viele Fälle von Menschen, die darunter leiden, konnten bislang nicht verzeichnet werden. Dennoch sprechen die Wissenschaftler von einer unter diagnostizierten Krankheit. Eine Diagnose zu stellen ist für die Ärzte auch nicht einfach, da es keine allgemein gültigen Kriterien dafür gibt.
So selten diese Krankheit vielleicht sein mag, so schwierig ist es für die Betroffenen, damit zu leben. Meist werden sie für Alkoholiker gehalten, denen niemand glaubt, keinen oder nur wenig Alkohol zu trinken. Sie werden für haltlose Trinker gehalten, die lediglich ihre Sucht verbergen und sie einfach nur abstreiten. Menschen mit ABS-Syndrom leiden oft unter Depressionen und Stimmungsschwankungen und müssen sich ständig rechtfertigen.
Auch Kinder können betroffen sein
Dabei sind nicht nur Erwachsene davon betroffen sondern auch Kinder. In den USA ist der Fall eines 13-jährigen Jungen bekannt, den man zum Kinderpsychologen schickte, weil er für einen heimlichen Trinker gehalten wurde. Erst nach vielen Gesprächen konnte der Bub seinen Therapeuten davon überzeugen, dass er keinen Alkohol trinkt. Und nach einer langwierigen Untersuchung konnte das ABS-Syndrom bei dem Jungen festgestellt werden. Auch bei einem dreijährigen Mädchen wurde die Krankheit entdeckt, eine Psychotherapie blieb ihr freilich erspart, denn dass die Kleine keine heimliche Trinkerin sei, war wohl den Eltern als auch den Ärzten klar. Beide Kinder hatten Fehlbildungen im Darm, aber ein direkter Zusammenhang mit dem Syndrom konnte nicht ganz klar festgestellt werden. Es könnten auch der Einfluss bestimmter Faktoren wie Ernährung, Immunsystem und die Aktivität bestimmter Leberenzyme dafür verantwortlich sein.
William A. jedenfalls ist froh, dass seine Erkrankung endlich festgestellt werden konnte. „Es ist ein völlig neues Lebensgefühl für mich, ich muss nicht mehr den Leuten erklären, dass ich keinen Alkohol trinke und trotzdem abschätzig angeschaut zu werden.“ Alkohol hat er früher eher in Maßen getrunken, seit vielen Jahren rührt er keinen an. Er war ohnehin stets betrunken, ohne es zu wollen.