Große Brüder und Schwestern stehen Kindern zur Seite
Mentoring als gelebte Suchtprävention

von Harald Frohnwieser

Vor mehr als 100 Jahren in den USA gegründet und seitdem in vielen Staaten der Erde erfolgreich tätig, gibt es die Organisation „Big Brothers, Big Sisters“ seit ein paar Jahren auch in Österreich. Kinder und Jugendliche bekommen eine große Schwester oder einen großen Bruder, die bereits erwachsen sind, zur Seite gestellt, die mit ihnen regelmäßig etwas unternehmen und für sie da sind, wenn es ein Problem gibt. Warum wir von „Alk-Info“ diese Organisation unseren Lesern vorstellen, ist schnell erklärt: Sie ist eine gelebte Präventionsmaßnahme zur Bekämpfung von späteren Suchterkrankungen, denn Kinder, die mit nur einem Elternteil aufwachsen und denen eine gleichgeschlechtliche Bezugsperson fehlt, entwickeln nicht selten ein Defizit, das sie später mit Alkohol oder Drogen auszugleichen versuchen.

Sozialpädagogin Julia KirnbauerAlexander ist 13 Jahre alt. Der intelligente, etwas in sich gekehrte und sensible Junge hat seinen gewalttätigen Vater seit etwa sieben Jahren nicht mehr gesehen, seine Mutter kümmert sich zwar aufopfernd um ihn und seine drei Geschwister, ist aber mit der Bewältigung des Alltags leicht überfordert. Seit einem halben Jahr hat Alexander nun einen „großen Bruder“, den er einmal die Woche für ein paar Stunden trifft, mit dem er Ausflüge unternimmt, mit ihm hin und wieder kocht, Schwimmen geht und dem er von der Schule und von seinen Freunden erzählt. Einmal, als die Zwei sich nach einem Spaziergang auf eine Bank setzten, lehnte Alexander plötzlich seinen Kopf an die Schultern seines Mentors und sagte: „Weißt du, ich bleib bei dir bis ich 18 bin.“ Und später, als sich die Beiden verabschiedeten, sagt der Junge nach einer Umarmung: „Du gehörst für mich zu meiner Familie.“
So wie Alexander gibt es viele Kinder und Jugendliche, die mit nur einem Elternteil aufwachsen, denen ein gleichgeschlechtliches Rollenvorbild fehlt. Vor allem Burschen sind davon betroffen, sind sie doch oft von früher Kindheit an vaterlos aufgewachsen. Und im Kindergarten als auch in den ersten Schulstufen sind männliche Vorbilder selten zu finden. Die Folgen davon können fatal sein. Eine österreichische Studie ergab, dass 90 Prozent aller männlichen Jugendlichen, die als Gewalttäter mit dem Gesetz in Konflikt kamen, vaterlos aufwuchsen. Aber auch späteres ein Abgleiten in eine Suchterkrankung ist in solchen Fällen leider keine Seltenheit. Sozialpädagogin Julia Kirnbauer, die für „Big Brothers, Big Sisters Österreich“ in Wien tätig ist, erklärt im Interview u. a., wie die Mentoren auswählt werden, wie wichtig ein großer Bruder, eine große Schwester für das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen ist und welche Wirkungen im Bereich der Suchtprävention erzielt werden können.

„Alk-Info“: Wie kam es zur Gründung von „Big Brothers, Big Sisters“?
Julia Kirnbauer: Im Jahr 1904 ist einem Gerichtsschreiber in den USA aufgefallen, dass viele männliche Jugendliche, die zumeist ohne Väter aufwuchsen, mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Er hat sich dann in seinem Freundes- und Bekanntenkreis nach erwachsenen Männern umgesehen, die sich als Mentoren um diese Burschen kümmern könnten. Zufällig hat sich gleichzeitig etwas für Mädchen entwickelt. Man hat sich bald einmal zusammengesetzt und gemeinsame Standards entwickelt. Es wurde auch mit anderen Mentoring-Programmen zusammen gearbeitet. In den 1970er Jahren wurde dann „Big Brothers, Big Sisters“ gegründet.

Ein Big Brother -Tandem beim einem FadenspielSeit wann gibt es die Organisation in Österreich?
In Wien wurde sie im Jahr 2012 als Pilotprojekt ins Leben gerufen, nach einer einjährigen Pause. gab es dann 2014 einen Neustart. Seither gibt es das Programm in Wien.

Wie sieht es diesbezüglich in Deutschland und in der Schweiz aus?
In Deutschland gibt es ähnliche Mentoring-Programme, in der Schweiz gibt es „Big Brothers, Big Sisters“ leider nicht.

Wie werden die Mentoren ausgesucht?
Wenn sich jemand bei uns als Mentor oder als Mentorin bewirbt, dann gibt es zunächst einmal ein Gespräch, das eineinhalb Stunden dauert. Danach entscheiden wir, ob er oder sie dafür in Frage kommen. Ist dies der Fall, dann muss er/sie ein polizeiliches Führungszeugnis speziell für Kinder vorlegen und drei Menschen aus seinem Familien- und Freundeskreis nennen, die uns bezeugen können, dass der Bewerber verlässlich und verantwortungsbewusst ist. Nach einem mehrstündigen Workshop mit den BewerberInnen, in dem wir sie mit allen möglichen Situationen konfrontieren, die auftreten können, treffen wir dann eine Entscheidung, wer Mentor und Mentorin wird. Danach gibt es dann bei uns die erste Begegnung mit dem Kind oder dem Jugendlichen im Beisein der Bezugspersonen. Ja, und dann kann es schon losgehen.

Die Kinder und Jugendlichen, die bei ihnen sind, sind zwischen sechs und 17 Jahren alt. Wie kommen die auf die Idee, einen Mentor oder eine Mentorin in ihr Leben zu holen?
Sie werden oft durch SozialarbeiterInnen vermittelt, kommen aber auch über Beratungslehrer in den Schulen oder über Psychologen zu uns. Sehr oft spielt sich das auch über Mundpropaganda ab.

Wie lange dauert es, bis ein Mentor, eine Mentorin, ein Kind zugeteilt bekommt?
Die Frauen müssen meist länger warten, da wir weniger Mädchen als Burschen haben. Da es weniger männliche Mentoren gibt, weil sie sich sozial nicht in diesem Ausmaß engagieren wie es die Frauen tun, kommen sie relativ schnell einen Burschen zugeteilt.

Apropos Burschen. Leiden sie wirklich so stark darunter, dass sie keinen Mann in ihrem Leben haben?
Den Jungs fehlen sehr oft das männliche Rollenvorbild. Wir haben sehr viele alleinerziehende Mütter, die uns das sagen. Da fehlt dann das informelle Lernen, nämlich das Lernen durch Vorbilder. Auch bei den Mädchen ist das mitunter ein Thema, aber bei den Burschen hat das gravierendere Auswirkungen, weil es da mehr um Selbstfindung geht. Wobei manche Mütter anfangs schon etwas skeptisch sind, dass ein anfangs wildfremder Mann mit ihrem Sohn etwas unternimmt, da braucht es schon sehr viel an Vertrauen. Aber wir können sie beruhigen, indem wir ihnen von unserem strengen Auswahlverfahren erzählen.

Ein Big Sister -Tandem beim TennisWie lange dauert ein Mentoring?
Zunächst einmal ist es für die Dauer von einem Jahr begrenzt. Nach acht Monaten setzen wir uns dann mit den Eltern oder dem Elternteil, dem Kind und dem Mentor zusammen und fragen, ob sie es für ein weiteres Jahr verlängern wollen, was mehr als die Hälfte auch macht. Wenn es nicht verlängert wird, zum Beispiel aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen, dann versuchen wir dem Kind zu zeigen, dass es auch schöne Abschlüsse gibt. Viele Kinder haben ja schon einige Verluste hinnehmen müssen, haben erlebt, dass Menschen aus ihrem Leben plötzlich nicht mehr da sind, was natürlich so gut wie immer negative Auswirkungen hat. Deshalb erklären wir dem Kind dann auch, weshalb das jetzt nicht mehr weitergehen kann und dass es nicht schuld daran ist.

Sozialpädagogin Julia KirnbauerTrauen sich die MentorInnen von Anfang an zu, dass sie eine wichtige Bezugsperson für ein Kind oder einen Jugendlichen sein können?
Nicht immer, sie fragen sich oft, ob sie dafür geeignet sind. Aber wir sagen ihnen dann immer, dass es keine spezielle Ausbildung dafür braucht, einem Kind Zeit und ein offenes Ohr zu schenken. Denn das alleine macht schon sehr viel aus.

Gibt es Erfahrungen darüber, welche Auswirkungen es auf ein Kind oder einen Jugendlichen hat, wenn es einen großen Bruder oder eine große Schwester zur Seite gestellt bekam?
Ja, eine Studie aus den USA, die ruhig auch auf uns übertragen werden kann, hat ergeben, dass es große Verbesserungen beim Selbstwert, in der Schule und in der Beziehung zu den Eltern und den Freunden gibt. Auch die psychische Gesundheit der Kinder verbessert sich sehr stark, sie haben auch mehr Lebensfreude. Zudem sind 46 Prozent der Kinder später einmal weniger anfällig für illegale Drogen, bei den Minderheiten wie Afroamerikaner oder Mexikaner sind das sogar 70 Prozent. Zudem sind 27 Prozent der Kinder später weniger anfällig beim Alkoholmissbrauch, bei den Minderheiten sind es 50 Prozent.

Gibt es Vorschriften für die MentorInnen?
Im ersten Jahr sind keine gemeinsamen Übernachtungen erlaubt. Und wir sagen von Anfang an ganz klar, dass während der Treffen kein Alkohol getrunken und auch nicht geraucht werden darf. Wir haben aber auch 16- und 17-jährige Burschen, da kann es schon einmal vorkommen, dass dann jemand sagt, dass er schon ein Bier trinken darf und sich eines bestellen will. Aber da hat zum Beispiel der Mentor gesagt: „Ich weiß, dass du das schon darfst, aber machen wir es so, dass bei unseren Treffen kein Alkohol getrunken wird. Wir können auch so Spaß haben, wir brauchen das nicht.“ Alleine dadurch lernt der Jugendliche schon sehr viel fürs Leben…

Big Brothers Big Sisters ÖsterreichBig Brothers Big Sisters Österreich – MentorInnen für Kinder und Jugendliche
1020 Wien, Praterstraße 60, Stiege 2, Top 17
Tel.: +43 (0)1/962 03 10
e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Web-Adresse: www.bigbrothers-bigsisters.at

Fotos: Thomas Frohnwieser (2), Big Brothers Big Sisters Österreich (2) Logo: Big Brothers Big Sisters Österreich (1)