Das Blaue Kreuz hilft auch vielen Angehörigen
Die Schwerarbeit beginnt mit der Trockenheit
von Harald Frohnwieser
Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, die nicht nur den Alkoholkranken alleine betrifft. Die meisten Angehörigen von AlkoholikerInnen sind oft hilflos überfordert und wissen nicht, wie sie den trinkenden PartnerInnen helfen sollen. Hilfe finden sie u.a. in der Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuzes, wo sie von ausgebildeten Fachleuten beraten werden. Doch ist der Partner endlich trocken, heißt das noch lange nicht, dass nun alles eitel Wonne ist. Im Gegenteil, in vielen Fällen ergeben sich neue Probleme, mit denen niemand gerechnet hat. Linda Woess, die in Wien die Angehörigengruppe vom Blauen Kreuz leitet, erzählt im „Alk-Info“-Interview, wie man hier gegensteuern kann.
Auf dem Fest tummeln sich viele Menschen, die Stimmung ist prächtig. Auch Walter* und seine Frau amüsieren sich blendend, reden mit Bekannten und genießen die Atmosphäre. Walter, seit einigen Monaten trocken, beobachtet, wie sich ein Mann am Nebentisch immer wieder ein neues Glas Wein bestellt. „Der hat jetzt schon sein sechstes Glas“, raunt er seiner Gattin zu. Was seine Ehefrau nun sagt, trifft Walter wie ein Keulenschlag: „Du musst gerade reden, du hast früher ja auch so viel gesoffen.“
Als Linda Woess diese Episode dem „Alk-Info“-Reporter erzählt, kann sie die Reaktion von Walters Ehefrau zwar verstehen, trotzdem war ihrer Ansicht nach der Ausspruch ein großer Fehler. „Man muss bedenken, dass die Mutter von Walters Gattin ebenfalls Alkoholikerin war, auch ihre früheren Lebensgefährten waren süchtig nach Alkohol. Daher hat sie ein hohes Aggressionspotential, wenn es um den Alkohol geht. Das ist ihre Geschichte, die sie mitschleppt“, so Linda, die aber verstehen kann, dass sich Walter in diesem Moment sehr gedemütigt fühlte. Besser wäre es Lindas Ansicht nach gewesen, die Gattin hätte gesagt, sie wäre froh, weil es ihm nun besser geht.
„Der verbale Umgang miteinander ist sehr wichtig, denn mit Worten kann man sehr viel anrichten“, weiß die Leiterin der Angehörigengruppe vom Blauen Kreuz Bescheid. „Die Schwerarbeit“, erzählt sie weiter, „beginnt mit der Trockenheit, da gibt es große Veränderungen. Der frühere Trinker entdeckt ein neues Lebensgefühl, sucht sich ein Hobby, aktiviert seine alten Interessen, ist wieder kommunikativ, trifft eigene Entscheidungen. Da verliert ein Angehöriger, der bisher das Leben seines Partner, seiner Partnerin managte, den Sinn seines Daseins, er oder sie verliert den bisherigen Stellenwert.“ Wie man dem gegensteuern kann, versucht Linda Woess den Angehörigen zu vermitteln: „Sie müssen neu dazu lernen, dürfen nicht stehen bleiben, müssen sich mit dem Partner, mit der Partnerin mitentwickeln und zwar Schritt für Schritt.“ Sei dies nicht der Fall, so die Therapeutin, kann es sogar zu einer Trennung kommen.
Lob tut dem trockenen Alkoholiker gut
Dass es ein trockener Alkoholiker nicht leicht hat, ist Linda bewusst: „Er muss den Angehörigen einerseits immer wieder beweisen, dass er nichts trinkt, es wird ihm lange genug auf die Finger geschaut. Andererseits freut er sich, dass er endlich trocken ist und will dies auch seinen Mitmenschen vermitteln.“ Deshalb, ist Linda überzeugt, tut es dem trockenen Alkoholiker gut, wenn er hin und wieder gelobt wird. „Doch ein andauerndes Lob bei jeder Gelegenheit kann auch kontraproduktiv sein, der Alkoholiker wird so zu jeder Tages- und Nachtzeit an seine frühere Saufzeit erinnert.“
Linda Woess bezeichnet sich gerne als „Frau der kleinen Schritte“. „Ich sage den Angehörigen, die in meine Gruppe kommen, immer, dass sie sich nicht zu viel vornehmen sollen. Denn viele bauen sich einen zu hohen Berg auf, über den sie dann nicht mehr drüber sehen können“, erzählt Linda Woess, die seit vielen Jahren die Angehörigengruppe des Blauen Kreuz in Wien leitet. Die multimediale Kunsttherapeutin weiß aus eigener Erfahrung, wovon sie spricht. Ist sie doch einerseits eine seit 1998 trockene Alkoholikerin, andererseits kennt sie die Probleme einer Angehörigen nur zu gut: Ihr Sohn hing jahrelang an der Flasche und nahm auch Drogen. „Jetzt ist er Gott sei Dank schon viele Jahre clean und trinkt auch keinen Alkohol mehr. Durch diese Erfahrungen, die ich als Mutter eines Süchtigen machen musste, weiß ich nur zu gut, wie es einem oder einer Angehörigen geht.“
Aufgewachsen im Atelier ihres Vaters, den Linda als Universalgenie bezeichnet, war sie schon früh mit Kreativität konfrontiert. Und mit dem Alkohol. „Mein Vater war ein Spiegeltrinker, der aber in dieser Beziehung ganz unauffällig war“, blickt sie auf ihre Kindheit zurück. Da war ihre Mutter ganz anders. Streng und ihrer Tochter gegenüber gewalttätig. Linda Woess: „Sie hat mich auch sexuell missbraucht.“ Als Linda 14 war, lernte sie auf einer Party im örtlichen Pfarrhaus zum ersten Mal die befreiende Wirkung von Alkohol kennen: „Ich hatte plötzlich keine Angst mehr.“ Linda zog es zum Theater, trat in kleineren Bühnen auf, ging auf Tournee: „Dadurch bin ich in die besten Kreise gekommen, was Drogen und Alkohol betrifft.“
Rum mit Nadel injiziert
Was bald folgten, waren jahrelange Alkoholexzesse und zahlreiche Aufenthalte in den verschiedensten Therapieeinrichtungen. „Ich war ein hoffnungsloser Fall“, sagt sie, „und habe Putzmittel getrunken und mir den Rum mit der Nadel injiziert.“
Erst ein fünf Monate langer Aufenthalt im Anton-Proksch-Institut in Kalksburg,Wien, brachte ihr die lang ersehnte Abstinenz. Danach absolvierte sie eine Ausbildung zur multimedialen Kunsttherapeutin, ein Praktikum führte sie zum Blauen Kreuz, wo sie später die Kreativgruppe und dann die Angehörigengruppe übernahm.
„Damals wollte keiner so richtig mit Angehörigen arbeiten, aber es haben immer wieder viele von ihnen angerufen, die verzweifelt Hilfe suchten. Da habe ich es probiert“, erzählt sie von ihren Anfängen. Die Gruppe entwickelte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten prächtig. Zehn bis zwölf Personen bilden derzeit die Kerngruppe und es kommen immer Neue hinzu. Linda: „Es ist beachtlich, wie viele Angehörige Hilfe suchen.“
Themen überlegt sie sich vorher nicht: „Ich schaue, was aus der Gruppe kommt und bin zum Glück sehr flexibel, um mich darauf einzustellen.“ Zwar sind immer noch die Frauen, die als Angehörige Hilfe suchen, in der Überzahl, aber es kommen in letzter Zeit auch mehr Männer in die Gruppe, weil die Frauen beim Alkohol aufholen. Und es kommen auch viele Junge: „Das geht von 19, 20 Jahren aufwärts.“ Bei dieser Zielgruppe stellt Linda Woess eine große Veränderung in den letzten Jahren fest: „Da gibt es eine große seelische Verwahrlosung. Die Jungen sind für viele Dinge einfach nicht mehr empfänglich, eine gesunde Neugierde gibt es fast nicht mehr. Sie sind wie tot. Aber da können sie nichts dafür, sie sind so erzogen worden.“
Es soll nichts offen bleiben
Wie geht sie mit der Belastung, andauernd mit Problemen anderer Menschen konfrontiert zu werden um? „Ich habe in meiner Ausbildung gelernt, zwischen Mitgefühl und Mitleid zu unterscheiden“, braucht sie nicht lange zu überlegen. Dass sie so manche Schicksale stark berühren, steht außer Frage: „Wenn ich erfahre, dass sich ein trinkender Partner einer Frau aus unserer Gruppe umgebracht hat, beschäftigt mich das natürlich.“ Aber: „Ich habe so viel erlebt, da kann mich nichts mehr runter zerren.“
Deshalb ist es ihr so wichtig, dass nicht nur die Angehörigen Hilfe suchen, auch die Betroffenen selbst sollen in Gruppen gehen, um sich hier mit anderen Alkoholikern auszutauschen. Zehn solcher Paare gibt es derzeit beim Wiener Blauen Kreuz. Linda: „Bei denen geht am schnellsten etwas weiter, sie machen zwei verschiedene Therapien, die aber miteinander zu tun haben.“ Das Kontrollieren des Partners, der Partnerin, das ohnehin nichts bringt, wird bei den Synergie Paaren bald weniger und hört dann ganz auf. Will der trinkende Partner noch nicht in die Gruppe gehen, so sollte das einen Angehörigen nicht aufhalten, Hilfe zu suchen. Und davon zu erzählen, denn das macht, so Linda Woess, neugierig. „Es kommt dann vor, dass der trinkende Partner sich dazu entschließt, sich ebenfalls Hilfe in der Gruppe für Betroffene zu suchen“, weiß Linda aus Erfahrung.
Eines will die Therapeutin nicht: das etwas offen bleibt. „Wenn es sich ergibt, überziehe ich die Zeit einfach um eine halbe Stunde“, sagt sie, denn: „Ich gebe jedem den Platz, der benötigt wird.“
* Name von der Redaktion geändert
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Fotos: Thomas Frohnwieser (5) Logo: Blaues Kreuz Wien (1)