Gruppentherapie für Angehörige im Wiener AKH
„Wir wollen die Menschen entschulden“
von Harald Frohnwieser
In der psychiatrischen Station des Wiener AKH werden nicht nur alkoholkranke Patienten behandelt, auch deren Angehörige finden hier ein offenes Ohr für ihre Probleme an der Seite eines Trinkers. Die regelmäßigen Treffen dieser Menschen werden von der Diplom Krankenpflegerin Melanie Ettlinger und dem psych. Diplom Krankenpfleger Robert Rakob geleitet. Im „Alk-Info“-Gespräch erzählen sie unter anderem, wie sie den Angehörigen zur Seite stehen, welches Grundkonzept dahinter steckt, wie man mit einem Rückfall umgehen sollte und dass vor allem eines wichtig ist: ein offener Umgang mit einem Thema, das von der Allgemeinheit gerne tabuisiert wird.
„Alk-Info“: Wie kam es dazu, dass Sie sich den Angehörigen von Alkoholkranken widmen?
Robert Rakob: Ich bin seit 1989 am Wiener AKH als Dipl. Krankenpfleger beschäftigt und Sucht war immer schon ein Thema für mich. Daher habe ich gemeinsam mit der Kollegin Ettlinger eine Gruppe für alkoholkranke Patienten aufgebaut, in der sie ihre Probleme besprechen konnten. Irgendwann bin ich drauf gekommen, dass man die Angehörigen miteinbeziehen muss, und so hat sich die Angehörigengruppe gebildet, die es jetzt gibt.
Wie oft kommen die Angehörigen in die Gruppe und für wie lange?
Rakob: Ungefähr ein Drittel der Angehörigen schauen sich unsere Gruppe nur ein Mal an und kommen dann nicht mehr, ein weiteres Drittel kommt unregelmäßig und das restliche Drittel bleibt und kann sich voll mit dem, was wir hier machen, identifizieren. Im Moment gibt es die Gruppe ein Mal im Monat.
Melanie Ettlinger: Manche kommen durchgehend über Jahre. Aber es dürfen zu uns nur jene kommen, deren alkoholkranke Angehörige bei uns in Behandlung sind. Wir bieten aber auch an, dass die beste Freundin oder der beste Freund einmal mit in die Gruppe genommen werden darf. Denn die haben ja oft einen großen Einfluss.
Werden Themen vorgegeben oder kann jeder das sagen, was ihm/ihr auf dem Herzen liegt?
Ettlinger: Es gibt das Grundkonzept, da wird erklärt, was wir machen und dass ein Rückfall kein Weltuntergang ist. Das sagen wir immer dann, wenn jemand neu in die Gruppe kommt und das daher noch nie gehört hat.
Rakob: Das Problem ist ja, dass wir keine heterogene Gruppe sind. Man hat oft jemanden dabei, wo man wieder von vorne beginnen muss. Das Schöne dabei ist, dass es immer jemanden gibt, der schon weiter ist, von dem ein Neuer etwas lernen kann. Aber es kann natürlich jeder ganz frei reden, da gibt es viel Bewegung in der Gruppe – von völliger Verzweiflung bis hin zu total positiven Gefühlen.
Was versuchen Sie den Angehörigen zu vermitteln?
Rakob: Wir versuchen Ihnen klar zu machen, dass es nicht um Schuld geht, wir wollen die Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, entschulden und auch das Positive hervorkehren. Entscheidend dabei ist die Frage, ob man den Partner, auch wenn er trinkt, liebt und mit ihm weiterleben will. Wir wollen ihnen vermitteln, wie sie die Zeit, in der der Partner trocken ist, positiv miteinander verbringen können. Denn oft ist es ja so, dass der Alkoholkranke als Ganzes infrage gestellt wird. Aber es ist ja nur ein Teil davon das Problem, er oder sie hat ja auch gute Seiten. Sehr viele Alkoholkranke sind sehr nett, wenn sie nichts trinken und manche auch, wenn sie trinken.
Geben Sie auch Tipps für den praktischen Alltag?
Rakob: Wir sagen immer, dass man dem trinkenden Partner nur solche Konsequenzen androhen soll, die man auch einhalten kann. Ich hatte einmal einen Patienten, der hat mir erzählt, dass ihn seine Frau nach 30 Jahren aufgrund seines Trinkverhaltens verlassen hat. Sie hatte ihn das die ganzen Jahre immer angedroht, und er hat ihr das einfach nicht mehr geglaubt, weil es so lange immer nur bei der Drohung geblieben ist. Daher ist es sehr wichtig, dass man nur die Dinge ankündigt, die man auch bereit ist zu tun.
Was könnte das zum Beispiel sein?
Ettlinger: Man könnte als Angehöriger zum Beispiel sagen, wenn du wieder betrunken nach Hause kommst, dann schlafe ich auf der Couch.
Rakob: Wenn man jeden Tag neben einem Betrunkenen liegt, dann hält man das ohnehin schwer aus.
Ettlinger: Wichtig ist, dass ein Angehöriger auf seine/ihre Bedürfnisse achtet. Die werden ja meistens vernachlässigt.
Wie wichtig sind die Angehörigen für den Alkoholkranken?
Rakob: Wir sind beide davon überzeugt, dass sie sehr wichtig sind, weil sie eine wichtige Stütze sein können. Daher versuchen wir auch, dass die Angehörigen lernen, ihren alkoholkranken Partnern, Müttern, Väter oder Töchter und Söhne wieder zu vertrauen. Das Problem ist ja, dass die Angehörigen irgendwann einmal in diese Kontrollphase kommen. Aus dieser müssen sie sich aber wieder verabschieden, denn ein Vertrauensvorschuss ist enorm wichtig für den Betroffenen, und zwar schon während des Entzugs. Der Alkoholkranke muss lernen, für sein Leben wieder die Verantwortung zu übernehmen. Solange ein Angehöriger die Verantwortung für ihn übernimmt, solange kann sich der Alkoholkranke verantwortungslos benehmen.
Das sprechen Sie in der Gruppe auch an?
Ettlinger: Ja, das sprechen wir an. Denn gut gemeint ist nicht immer gut.
Kommen die Angehörigen auch, wenn der oder die Alkoholkranke bereits trocken ist?
Rakob: Ja, die meisten schon. Dazu muss man sagen, dass 85 Prozent der Alkoholiker immer wieder Rückfälle haben, das ist leider so. Unser Zugang ist, wenn jemand zwei- oder drei Mal im Jahr einen Rückfall hat, dann ist dies kein Beinbruch. Aber der Rückfall darf natürlich nicht lange dauern.
Von welchem Zeitraum sprechen Sie?
Rakob: Einen Tag, maximal zwei Tage. Denn je länger ein Rückfall dauert, desto schwieriger wird der Weg zurück. Darum ist es so wichtig, dass ein Angehöriger ihn dabei unterstützt und dass sich der Alkoholkranke auch helfen lässt.
Sie sehen einen Rückfall als nicht so schlimm an?
Rakob: Ein Rückfall kann passieren, aber man sollte, wie schon gesagt, darauf schauen, dass man aus dieser Situation schnell wieder raus kommt. Das ist das oberste Credo. Ich versuche immer den Angehörigen klar zu machen, dass sie rechtzeitig den Partner, also wenn er trocken ist, fragen, was sie tun sollen, wenn er einen Rückfall hat. Wenn sie erst dann fragen, wenn er schon getrunken hat, ist es ja meistens schon zu spät. Patienten und Angehörige müssen lernen, offen miteinander umzugehen, denn der Angehörige werkt ohnehin, wenn der Partner wieder getrunken hat.
Das Problem dabei ist, dass sich ein Alkoholiker denkt, jetzt, da er wieder getrunken hat, ist es eh schon egal und weiter trinkt.
Ettlinger: Das versuchen wir ihm während seines Aufenthalts bei uns wirklich mitzugeben, dass das eben nicht egal ist. Man muss versuchen, das aus den Köpfen heraus zu bekommen. Und zwar bei den Alkoholkranken genauso wie bei den Angehörigen.
Rakob: Leider glauben viele, wenn sie einige Zeit lang trocken sind, dass sie wieder normal, kontrolliert trinken können. Das kann zwar eine Zeit lang gut gehen, aber irgendwann kippt es dann und sie trinken wieder so wie früher. Das ist nur eine Frage der Zeit.
Vermitteln Sie den Angehörigen auch, dass Alkoholismus nicht heilbar ist sondern nur zum Stillstand gebracht werden kann?
Rakob: Ich vergleiche das immer mit der Zuckerkrankheit, die ja auch nicht heilbar ist.
Ettlinger: Das ist auch greifbarer, damit kommen die Angehörigen besser zurecht als mit dem Begriff Alkoholismus.
Wie sehen Sie den Begriff Co-Alkoholiker?
Rakob: Da bin ich sehr skeptisch, ob es das gibt. Natürlich wird ein Ehefrau, die auf das Geld ihres alkoholkranken Mannes angewiesen ist weil sie ein paar Kinder hat und das Leben finanziert werden muss, in seiner Firma anrufen und ihn krank melden, während er seinen Rauch ausschläft. Das hat nichts mit vertuschen zu tun. Die Frage ist nur, wie lange das geht. Aber ihn ein paar Mal in der Firma zu entschuldigen, ist verständlich, da ist man noch kein Co-Alkoholiker, weil es eine ganz normale Reaktion ist.
Sie haben vorhin gesagt, dass man offen mit der Krankheit umgehen soll. Wie offen soll man sein? Soll man es allen sagen?
Rakob: Man muss es ja nicht jedem auf die Nase binden, dass man alkoholkrank ist. Wichtig sind die, mit denen man dauernd zu tun hat, also die Familie, die Freunde, die Kollegen. Man kann auch den Kindern sagen, dass der Papa oder die Mama so viel trinkt, weil er oder sie krank ist. Man darf ihn oder sie aber nicht schlecht machen bei den Kindern, aber ihnen erklären, was los ist, das kann man ruhig. Ein Dreijähriger wird damit noch nichts anfangen können, aber ein Kind mit acht oder zehn Jahren versteht das schon.
Was unternehmen Sie, wenn Sie sehen, dass ein Angehöriger noch eine weitere Hilfe braucht?
Rakob: Wenn ich das sehe, dann vermittle ich ihn selbstverständlich weiter. Nicht nur Kinder von Alkoholkranken, sondern auch deren Partner.
Wie sehr hat Ihre Arbeit Ihr Verhältnis zum Alkohol verändert?
Rakob: Ich schätze ihn, seit ich beruflich mit den Folgen von Alkoholmissbrauch konfrontiert bin, gefährlicher ein. Man entwickelt ein größeres Problembewusstsein.
Ettlinger: Man wird bei sich selber sensibler, aber ich zähle im Bekannten- und Freundeskreis nicht mit, wie viel jemand trinkt.
Rakob: Aber wenn ich sehe, dass jemand über einen längeren Zeitraum viel trinkt, dann spreche ich das schon an.
Fotos: Thomas Frohnwieser (3)