Alkohol ist ein schlechter Stress-Killer
Das Märchen vom Entspannungsschluck
von Harald Frohnwieser
Der Lärm im Großraumbüro ist unerträglich, der Chef verlangt, dass Unmögliches sofort erledigt wird, bei der Heimfahrt der Stau und zu Hause nerven die sich streitenden Kinder. Da soll man nicht zu einem Glas Wein oder Bier greifen dürfen, um den Tag am Abend in entspannter Atmosphäre ausklingen zu lassen? Keine Frage, Alkohol entspannt dank seiner dämpfenden Wirkung. Doch das Gefühl der Loslösung von den Mühen des Alltags hält nur wenige Stunden an. Dann ist wieder Stress angesagt – und der Körper braucht nun länger, um ihn abzubauen. Britische Forscher haben zudem herausgefunden, dass trockene Alkoholiker ein erhöhtes Rückfallrisiko haben, wenn sie unter Stress stehen.
Schon sein einigen Wochen hatte sich Walter S., 43, auf seinen ersten trockenen Geburtstag seit langer Zeit gefreut. Diesmal wird es keinen Wein, keinen Sekt und nicht mal ein Glas Bier geben, das hat er sich ganz fest vorgenommen. „Meine Familie wird stolz auf mich sein“, hat er noch euphorisch zu seinem besten Freund gesagt. Einen Grund, stolz auf ihn zu sein, hatten Walters Frau und seine zwei Kinder lange Jahre davor kaum, denn alkoholbedingte Abstürze waren nicht die Ausnahme sondern die Regel. So lange, bis Job und Führerschein weg waren. Seit kurzer Zeit fährt Walter wieder mit dem Auto und einen neuen Arbeitsplatz hat er auch gefunden. Walter ist nach seiner Entziehungskur seit bald einem Jahr trocken. Alles paletti also, könnte man meinen.
Doch Walter steht unter großem Druck. Sein neuer Chef verlangt viel von seinen Mitarbeitern, der ständige Lärmpegel im Großraumbüro ist hoch, Abends steht er bei der Heimfahrt oft lange im Stau und zu Hause nerven die sich streitenden Kinder. Um es kurz zu sagen: Walter hat Angst, wieder rückfällig zu werden, der Stress, dem er tagtäglich ausgesetzt ist, ist einfach zu hoch. Irgendwann, so denkt er angstvoll, wird er zu einem Glas Wein greifen müssen, um seinem gestressten Körper und Geist wenigstens für kurze Zeit eine Entspannung zu gönnen.
Walter ist kein Einzelfall. Britische Forscher der Universität von Liverpool haben in einer Studie herausgefunden, dass das Hormon Cortisol, das bei Stress freigegeben wird, das Risiko für einen Rückfall bei Alkoholikern erhöhen kann. Cortisol ist in hohen Leveln bei chronischen Alkoholikern vorhanden, aber auch bei jenen, die einen Entzug hinter sich haben, auch wenn dieser schon etwas länger her ist. Das Hormon spielt eine wichtige Rolle bei der Regelung von Emotionen, Lernen, Aufmerksamkeit, Energiestoffwechsel und dem Immunsystem. „Sowohl Trinken als auch der Entzug vom Alkohol können die Cortisol-Funktion bei Menschen beeinflussen“, stellt die Hauptautorin der Studie, Abi Rose, fest. Wie man dem Vorbeugen kann? „Medikamente, die die Wirkungen des Stresshormons Cortisol im Gehirn als Ziel haben, könnten die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls und die kognitiven Beeinträchtigungen reduzieren“, so Abi Rose.
Anspannung wird nicht abgebaut
Sollte Walter S. auf die fatale Idee kommen, seinen Stress mit Alkohol zu bekämpfen, wäre er auf alle Fälle schlecht beraten. Nicht nur, dass er wieder dort landen könnte, wo er vor seinem Entzug war, Alkohol ist so oder so ein schlechter Stress-Killer. Wissenschaftler der Universität von Chicago haben entdeckt, dass Alkohol nach Stresssituation überhaupt nicht hilft, die Anspannung abzubauen. Im Gegenteil: Laut ihren Erkenntnissen braucht der Körper viel länger, um den Stress abzubauen. Das liegt darin, dass der Körper daran gehindert wird, sich vom empfundenen Druck zu erholen. Für ihre Studie führten die Forscher mit 25 gesunden Männern verschiedene Tests durch. Die Probanden mussten frei sprechen und Aufgaben lösen. Danach wurde ihnen entweder Alkohol oder ein Placebo verabreicht. Anschließend wurden bei den Teilnehmern der Puls, der Blutdruck und der Cortisolgehalt im Speichel gemessen. Und sie wurden sowohl nach ihrem Befinden als auch nach ihrem Verlangen nach Alkohol befragt.
In den darauffolgenden stressfreien Tests wurde die Wirkung des Alkohols überprüft. Das Ergebnis: Alkohol wirkt nicht bei jedem Menschen gleich. Während manche nach einer stressigen Situation kein Verlangen nach Alkohol verspüren, obwohl sie in einer entspannten Situation gern mal ein Glas trinken, hatten andere, die sonst auf Alkohol verzichten, in der Anspannungsphase sehr wohl ein Verlangen nach alkoholischen Getränken. Doch genau diese Testpersonen konnten ihren Stress schlechter abbauen als jene, die auf Alkohol verzichteten, da sich der Körper nicht auf eine natürliche Art und Weise entspannen konnte. Der Versuch, seine Alltagssorgen mit Hilfe von Alkohol loszuwerden, erweist sich somit als kontraproduktiv. Der Stress dauert länger an, wenn man zur Flasche greift. Hinzu kommt durch den Alkohol ein geschwächtes Immunsystem, was freilich wieder eines erzeugt – Stress!
Stressabbau als Trinkmotiv
Trotz allem wird Bier, Wein oder Wodka gerne eingesetzt, wenn die Mühen des Alltags zu sehr fordern. „Alkoholkonsum zum Bewältigen von Stress ist weit verbreitet“, weiß auch die Leiterin der Suchtberatung Zug in der Schweiz, Dipl. Psychologin Judith Halter. Sie weiß aus Erfahrung, dass eine Alkoholsucht weniger durch häufige Trinkexzesse entsteht, sondern vielmehr durch einen regelmäßigen Konsum, der sich schrittweise erhöht. „Bei einem großen Teil der Personen, die die Suchtberatung aufsuchen, wird der Wunsch, abschalten zu können, als wichtiges Trinkmotiv angegeben“, berichtet Judith Halter.
Abschalten mit Hilfe von Wein, Sekt oder Prosecco wollen seit einigen Jahren immer mehr Frauen, berichten Forscher der Universität in Hannover. Gefährdet sind laut der Wissenschaftlerin Anja Wartmann vor allem hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen, die in ihrem Job einem besonderen Druck ausgesetzt sind. Dazu kommt, dass viele Frauen zu Hause familiäre Pflichten zu absolvieren haben. Da kann es schon vorkommen, dass aus einem Glas schnell mal eine halbe Flasche wird. Anja Wartmann: „Oft ist den Frauen nicht bewusst, dass auch Mengen, die ihnen gering vorkommen, bereits gesundheitsschädigend sein können.“ Der Alkoholkonsum werde funktionalisiert, so die Forscherin: „Frauen trinken oft abends, wenn alles fertig ist und die Kinder im Bett sind. Das Trinken ist ein Feierabendsymbol und wird zum Ritual.“ Das mache es schwerer, dieses Verhalten zu ändern. Typisch sei, so Wartmann, dass Frauen weniger öffentlich trinken so wie Männer in der Kneipe, sondern allein zu Hause. Die regelmäßige Flasche Wein zur Entspannung bleibt daher lange unbemerkt.“
Wie die Maus so der Mensch
Der Forscher Rainer Spanagel vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, Deutschland, hat Mäuse in Stresssituationen versetzt und ihnen danach Wasser und Alkohol in den Käfig gestellt. Das Resultat ist nicht besonders überraschend: Die Nagetiere griffen lieber zu Hochprozentigem als zum Wasser. Prof. Spanagel: „Bei uns Menschen ist das vermutlich ähnlich. Wenn wir gegen den Stress nicht mehr ankämpfen können, trinken wir mehr Alkohol.“
Was aber kann man gegen den Stress tun? Experten raten zu ausreichender Bewegung, Entspannungstechniken, mentales und emotionales Training sowie insgesamt zu einer gesundheitsfördernde Lebensweise. Aber auch das sollte man möglichst entspannt angehen und keinen verbissenen Wettbewerb daraus machen. Denn sonst wird wieder ein Stress daraus und mit der gewünschten Entspannung ist es schnell vorbei.
Web-Adresse: www.zi-mannheim.de
Foto: Prof. Dr. Rainer Spanagel (1), Grafik: Thomas Frohnwieser (1), commons.wikimedia.org (1)