Emotionaler Missbrauch in der Kindheit
Die Rolle des Serotonins beim Alkoholismus
von Werner Schneider
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend missbraucht oder misshandelt wurden, zu Aggression und Suchtverhalten neigen. Wobei hier Missbrauch in physischer oder psychischer Weise gemeint ist. Das heißt laut einer Studie: „Wie sich zeigte, stehen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit – und zwar insbesondere emotionale Misshandlungen – mit einem dramatischen Rückgang des Serotoninspiegels um 90 Prozent bei männlichen alkoholabhängigen Erwachsenen im Zusammenhang“, konstatiert Kristina Berglund von der Universität Gothenburg in Schweden.
Damit sei erwiesen, dass sich die negativen Auswirkungen von Kindheitstraumata auf die Serotoninmenge in Verbindung mit Alkoholismus um ein Vielfaches verstärken. Wie nachhaltig sich der Missbrauch von Alkohol auf das Verhalten auswirkt, ist bislang jedoch nicht geklärt.
Für ihre Studie untersuchten Berglund und ihre Kollegen 18 alkoholabhängige erwachsene Männer. Ihr Serotoninspiegel wurde ermittelt, indem die Menge des Hormons Prolaktin im Blut nach Verabreichung des selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmers Citalopan gemessen wurde. Ob eine Traumatisierung in der Kindheit stattgefunden hatte, analysierten die Wissenschaftler durch den validierten Fragebogen „Childhood Trauma Questionnaire“ (CTQ). Als emotionale Misshandlung gelten dabei unter anderem permanente verbale Beleidigungen und abfällige Bezeichnungen wie „dumm“, oder „hässlich“. Kinder, die längerfristig solchen Erniedrigungen ausgeliefert sind, erleiden nachweislich dauerhafte emotionale Schäden.
Dass ein Kindheitstrauma das Risiko für spätere psychische Störungen und die Tendenz zu Alkoholabhängigkeit erhöht, hatten bereits frühere Studien erkannt. Auch der Einfluss eines gestörten Serotoninhaushalts auf die Entwicklung psychischer Krankheiten wurde in der Vergangenheit schon untersucht. Berglund und ihr Team haben nun jedoch erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen traumatischen Kindheitserlebnissen und einem niedrigen Serotoninspiegel bei alkoholabhängigen Erwachsenen aufzeigen können. Der Mechanismus hinter dieser Verbindung ist zwar laut Berglund noch nicht bekannt. Dennoch rät die Forscherin Klinikärzten, alkoholabhängige Patienten auf Kindheitstraumata hin zu untersuchen, denn die Kombination aus frühen Missbrauchserfahrungen und späterem exzessivem Alkoholkonsum sei „extrem schädlich für das Gehirn“.
(Quelle: Wissenschaft aktuell)
Was es mit diesem so wichtigen Serotonin auf sich hat, wie es im Körper erzeugt wird und wie es wirkt, erklärt der Psychiater und Oberarzt Dr. Manfred Maier vom Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) in Graz.
„Alk-Info“: Herr Dr. Maier, in der oben vorgestellten Studie wird das Serotonin sehr oft erwähnt. Was ist nun Serotonin?
Dr. Manfred Maier: Chemisch gesehen ist es ein sogenanntes biogenes Amin, das in unserem Körper aus der Aminosäure Tryptophan gebildet wird. Das Tryptophan führen wir über die Nahrung zu. Serotonin kommt aber auch in Pflanzen vor, ganz besonders zum Beispiel in Walnüssen.
Wo im Körper wird es produziert?
Ganz allgemein beziehen wir uns beim Thema Serotonin oft in erster Linie auf seine Rolle als Überträgerstoff in unserem Gehirn. Tatsächlich kommt es in unserem Körper aber zu 95 % in unserem Magendarmtrakt vor. Dort wird es auch produziert. Da dieses Serotonin aber nicht ins Gehirn gelangen kann, muss es dort aus dem Tryptophan separat gebildet werden. Im Gehirn wird es in den Nervenendigungen des serotonergen Systems gespeichert und kann dann auf weitere Nervenzellen wirken.
Wozu dient das Serotonin?
Das sog. serotonerge System ist eines von mehreren – sogenannten neuromodulatorischen - Systemen, die in unserem Gehirn für ein „psychisches Gleichgewicht“ sorgen. Die anderen Systeme sind das noradrenerge, das dopaminerge und das cholinerge System. Übrigens verfügen wir in unserer Großhirnrinde über ca. 20 Milliarden Nervenzellen (Spitzer, Lernen, S 51 Anm.). Das serotonerge System hat in unserem Gehirn gewissermaßen die Form eines riesigen, weit verzweigten Baumes. Es kann so auf die übrigen Nervenzellen der Hirnrinde Einfluss nehmen und damit verhindern, dass dort Erregungen zu stark werden. Den ganzen Tag über gibt es 3 bis 5 Impulse pro Sekunde ab (vgl. Hüther, Anm.).
Wie wirkt Serotonin?
Über zumindest 15 unterschiedliche Rezeptoren vermittelt das Serotonin seine Wirkungen im Gehirn und im übrigen Körper. Es wirkt unter anderem stimmungsaufhellend, beruhigend, antidepressiv und schmerzhemmend. Es steuert unseren Wachzustand, beeinflusst unsere Handlungsimpulse, unseren Appetit und unsere Libido, im Darm ist es an der Regulierung der Darmmotorik beteiligt. Im Übrigen ist das Serotonin eine von mehreren Voraussetzungen, dass wir so etwas wie „Glück“ empfinden können. Dementsprechend breit gefächert kann es dann auch zu Beschwerden kommen, wenn dieses serotonerge System gestört ist.
Was sind Störungen des Serotoninsystems?
Neben Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen kann es unter anderem auch zu Störungen der Impulskontrolle kommen und damit zu aggressivem Verhalten und zur Suchtentwicklung beitragen. Serotonin beeinflusst insgesamt unsere Fähigkeit, auf Belastungssituationen überlegt und adäquat reagieren zu können. Ist die Serotoninmenge zu niedrig, kann es leichter zu Fehlreaktionen und damit längerfristigen zu psychischen Störungen kommen.
Wie kommt es zu Störungen in diesem System?
Störungen des Serotoninsystems scheinen grundsätzlich zwei mögliche Ursachen haben zu können: die erbliche Veranlagung und unterschiedliche Umwelteinflüsse. So kann zum Beispiel Ecstasykonsum neben einer Hemmung der Serotoninproduktion zu einer völligen Entleerung der Serotoninspeicher in den Nervenzellen führen. Chronische Stresssituationen führen ebenfalls zu einem erniedrigten Serotoninspiegel. Daher ist es nachvollziehbar, dass sich auch Missbrauchserfahrungen in der Kindheit langfristig auf das serotonerge System auswirken. Auf einen genetischen Faktor weist Spitzer hin. Er bezieht sich dabei auf das Molekül, das dafür zuständig ist, dass das Serotonin nach seiner Ausschüttung in den synaptischen Spalt schon nach ganz kurzer Zeit wieder in die ausschüttende Zelle zurück aufgenommen wird. Viele der uns bekannten Antidepressiva wirken zum Beispiel über eine Beeinflussung dieses Transportmoleküls.
Wie funktioniert ein Serotonin-Transporter?
Die genetische Information für unsere Serotonin-Transporter bekommen wir jeweils zur Hälfte von unseren beiden Eltern. Bekommen wir von beiden Eltern eine Variante mit einem längeren Gen-Abschnitt - l-Allel - dann sind wir psychisch robuster, bekommen wir zwei kurze Gen-Varianten - s-Allel -, dann können schon relativ geringe Belastungen zu erheblichen psychischen Störungen führen (vgl. Spitzer, Anm.). All dies deckt sich mit dem bekannten Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Wir bekommen gewissermaßen unsere „Verletzlichkeit“ vererbt, ob eine Erkrankung schließlich zum Ausbruch kommt, hängt von Umweltfaktoren und der individuellen Belastung ab.
Wie wirkt sich das Serotonin auf das Alkoholverhalten aus?
In Untersuchungen mit Rhesusaffen konnte beobachtet werden, dass sozial isoliert aufgewachsene Individuen mit einer entsprechenden Verminderung des Serotoninumsatzes eine höhere Neigung hatten, Alkohol zu konsumieren, als jene, die in der Obhut ihrer Mütter aufgewachsen waren (Heinz, 1998 Anm.). Insgesamt dürfte das serotonerge System bei der Entwicklung der Alkoholabhängigkeit eine nicht unwesentliche Rolle spielen (LeMarquand et al., 1994 Anm.). Sowohl einmaliger als auch chronischer Alkoholkonsum beeinflussen das serotonerge System. Während es nach Alkoholkonsum unmittelbar zu einer vermehrten Serotoninausschüttung kommt, führt chronischer Konsum zu einem erniedrigten Spiegel.
Was sind die Folgen davon?
Unter anderem kommt es hierbei zu Veränderungen an den postsynaptischen Rezeptoren (Lovinger, 1997 Anm.).Wenn man nun davon ausgeht, dass eine schon bestehende Störung dieses Systems Einfluss auf die Affekte, die Impulskontrolle, die Neigung zu aggressivem Verhalten und das geordnete Denken hat, so werden die zusätzlichen Veränderungen durch den Alkoholmissbrauch den negativen Effekt auf das System noch verstärken. Gotjen et al. (2002) fanden aber heraus, dass diese alkoholbedingten Veränderungen nach einer langfristigen Abstinenzphase wieder reversibel sein dürften.
Fotos: Werner Schneider (1), Thomas Frohnwieser (1) Grafik: commons.wikimedia.org (1)