Das Leben der Kinder von Alkoholikern
Ruhe finden in der „Wirbelkiste“
von Werner Schneider
In Österreich leben etwa 150.000 Kinder in Haushalten, in denen ein Familienmitglied ein Alkoholproblem hat. Oder schlimmer: beide. Die steirische Fachstelle für Suchtprävention VIVID betreut mit dem Projekt „Wirbelkiste“ in der Steiermark (wo etwa 20.000 leben) diese Kinder. Über die Herausforderungen dieser Kinder und wie man ihnen helfen will sprach der Leiter des Projekts, Mag. Michael Sailer, mit Alk-Info.
„Alk-Info“: Herr Mag. Sailer, Wirbelkiste, was ist das?
Mag. Michael Sailer: Wirbelkiste ist ein Gruppenangebot für Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, in deren Familien es Schwierigkeiten mit Alkohol gibt. Ziel ist es, den Kindern einen besseren Umgang mit dieser schwierigen Situationen zu lernen und kindgerechte Informationen zum Thema Alkohol und Sucht zu vermitteln. Vor allem soll ein Raum geschaffen werden, in dem das Kind einfach Spaß haben und mit anderen spielen und reden kann. Mittels Übungen werden die Kinder ermutigt, ihre Gefühle wahrzunehmen und ihre Bedürfnisse auszudrücken, um sie stark zu machen für das Leben.
Was bedeutet der Name Wirbelkiste?
Kinder in alkoholbelasteten Familien erleben oft stürmische „durchwirbelte“ Zeiten. Dieses Gefühl soll sich im Wort Wirbel widerspiegeln. Zugleich spielt der Name darauf an, dass Kinder in der Gruppe die Möglichkeit haben, einfach nur Kind zu sein. Mit dem zweiten Wort Kiste wird auf die Methodik in der Gruppe hingewiesen: zum Beispiel, dass es eine Kiste voll an Methodenrepertoire gibt, oder jedes Kind eine Schatzkiste hat, in die es Dinge, die es gut kann oder mag, geben kann. Das Wort spielt auch auf die Tatsache an, dass Kinder eine Kiste voll unterschiedlicher Erfahrungen und Gefühle mitbringen.
Wie viele Kinder sind vom elterlichen Alkoholkonsum betroffen?
Wenn man bedenkt wie viele Kinder davon betroffen sind, ist es eher überraschend, dass die Angebotslage sehr seicht ist. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass etwa 150.000 Kinder von Alkohol belasteten Eltern betroffen sind, in der Steiermark sind es etwa 20.000. Das hat dann eine lange Vorlaufzeit gegeben, wie dockt man an? Wie organisiert man so eine Kindergruppe, wen sucht man sich als Partner? Wir haben uns dann meiner Meinung nach zwei sehr starke Partner ausgesucht: die Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF, Anm.) für den medizinischen Bereich und aus dem pädagogischen Bereich den Verein Rainbows, der Erfahrung mit den Themen Scheidung, Trennung und Tod für Kindergruppen hat.
Welche Kinder kommen in die Gruppen und womit konfrontiert man sie?
Unser Pilotprojekt schaut so aus, dass wir Kinder zwischen acht und zwölf Jahren in die Gruppen nehmen möchten, mit der Thematik Alkohol, das heißt, wir haben dezidiert für Alkohol belastete Familien das Angebot gestaltet. Es ist ganz wichtig, dass sie altersgerechte Information erhalten und dass sie auch darüber Bescheid wissen, wie die Tabuisierung gebrochen wird, da ja zuhause darüber geschwiegen wird. Die Kinder kriegen sehr vieles mit, sie sind sehr sensibel wenn es dem Papa nicht „gut geht“. Man sagt auch oft: „Warum soll ich meine Kinder damit belasten?“ Sie sollten darüber eine Stabilisation für ihre Situation erhalten. Sie sollen daneben aber auch Kind sein dürfen.
Werden die Eltern auch eingebaut und was kostet das?
Neben den Treffen mit den Kindern, die so eineinhalb bis zwei Stunden dauern, gibt es auch Elterntreffen, das ist ein ganz wichtiger Aspekt die Eltern mit einzubauen, wobei es bei den Elterntreffen gar nicht um ihren Alkoholkonsum geht, es geht ganz stark um ihre elterliche Verantwortung und den Erziehungsauftrag, den sie diesbezüglich auch haben. Wobei man ihnen zudem mitteilt, wie es den den Kindern in der Gruppe ergeht, ist irgendwo auch eine Thematik, die man besprechen sollte? Es ist wichtig, dass ein Elternteil erscheint, denn es kann ja auch sein, dass der andere Elternteil einen Entzug im LSF macht. Der Kostenpunkt ist eigentlich zu vernachlässigen, weil wir dreißig Euro pro Kind verlangen, das ist für neun Einheiten, es gibt auch eine Jause oder Kopiermaterial, das ist eigentlich ein Unkostenbeitrag.
Sie haben jetzt von Eltern gesprochen, die sich schon in Behandlung etwa ins LSF begeben haben, wie schaut es mit jenen aus, die diesen Schritt noch nicht gemacht haben, wie kommt man an die heran?
Das ist ein ganz interessanter Aspekt, der bei uns in der zweiten Phase entstanden ist. Und zwar haben wir unsere Beratungseinrichtungen in der Steiermark, die direkt mit Sucht konfrontiert sind wie das BAS oder die Anonymen Alkoholiker und das Al-Anon, wir haben unsere Angebote direkt per E-mail an die versandt. Wir haben die Wirbelkiste in diese Richtung direkt beworben. Wenn sich jemand bei einem Beratungszentrum meldet und noch nicht einen stationären Entzug macht sondern nur einmal eine ambulante Behandlung in Anspruch nimmt, dass auch diesen Personen unser Angebot zur Verfügung gestellt wird. Wir stellen dieses Angebot Steiermark weit zur Verfügung. Wenn sich eine Kindergruppe mit vier Kindern in Leoben findet, dann würden wir für diese Kindergruppe auch nach Leoben fahren.
Kinder in Alkohol gefährdeten Familien erleben ja dreierlei. Einerseits den Alkoholmissbrauch als Normalzustand, was ja gefährlich ist für die Entwicklung und Zukunft des Kindes, sie erleben zum Teil Aggression, was ebenso gefährlich ist, weil die oft weitergegeben wird und sie erleben die Scheu, die elterliche Situation nach außen hin zu zeigen. Wie setzen Sie da bei den Kindern an?
Ganz klassisch könnte man sagen, dass man vier Rollen unterscheiden kann, die Kinder in einer solchen Situation einnehmen. Einerseits gibt es dieses Heldenkind, das stark ist und sehr viel Verantwortung übernimmt. Es ist so ein bisschen diese Bagatellisierung, die da stattfindet, nach außen hin den Schein zu wahren und zu sagen, da ist alles o.k., es passt alles. Diesem Heldenkind muss man in einer Kindergruppe ganz stark diese Verantwortung wieder nehmen und den Eltern mitteilen, dass sie diesem Kind die Verantwortung wieder abnehmen, es soll wieder dieses Kind-sein-dürfen erleben, das Spielerische. Dann gibt es auch das revoltierende Kind, das mehr die Aggressionen nach außen trägt, wo die Literatur aber auch ganz klar sagt, das könnte der erste Schritt sein, in die Familie wieder hinein zu kommen. Es ist aufsässig, Verhaltens auffällig…
…darf ich einhaken: Diese Kinder sind ja oft auch Aggressionen ausgesetzt…
Auch natürlich, keine Frage. Und irgendwo brauchen sie dann ihr Ventil. Die Frage ist, wie ich mit diesen Aggressionen umgehe. Da ist einerseits das Kind, das diese Aggressionen weiterträgt und wo dann jemand von einer professionellen Hilfe eingeschaltet werden kann. Nur der Ansatz ist: Man sieht häufig nur dieses problematische Kind und man sieht dann gar nicht den Hintergrund, warum. Weil es häufig sehr schwierig ist, in die Familie hineinzukommen. Neben diesem Revoluzzer-Kind gibt es auch das sehr ruhige Kind, das sich in sich zurückzieht, sehr viele Ängste hat und Traumwelten aufbaut. Das ist der Unterschied, das richtet seine Aggressionen gegen sich selbst. Wenn man dann noch das Clown-Kind hinzunimmt, das sehr viel mit Spaß übertreibt, dann sieht man die Gefühlsachterbahn, der diese Kinder ausgesetzt sind.
Wie schaut’s aus mit jenen Kindern, die den Normalzustand Alkohol zu Hause sehen, wie früh fangen die selbst an mit Alkohol zu experimentieren?
Das kann man spontan gar nicht sagen, wie früh. Es ist natürlich ein höheres Risiko vorhanden, keine Frage, aber es muss jetzt gar nicht auf das Thema Alkohol bezogen sein, das Risiko kann sich auch in anderen Bereichen widerspiegeln. Es gibt natürlich Studien, welchem Risiko diese Kinder durch die Alkoholproblematik ausgesetzt sind, in Kombination mit psychischen Auffälligkeiten und in Kombination mit anderen exzessiven Verhaltensweisen, wie exzessiver Medienkonsum, sich zurückziehen. Das heißt, die Thematik muss gar nicht direkt auf den Alkohol bezogen sein. Man weiß aus der Kinderklinik, dass Kinder, die mit Alkoholvergiftungen eingeliefert werden zu einem Drittel ein ernsteres Problem im Hintergrund liegt. Bei den anderen zwei Drittel passiert das aus einem Experimentierverhalten.
Nähere Informationen zur Wirbelkiste finden Sie hier: www.vivid.at/angebot/kinder/wirbelkiste---gruppe-fuer-kinder-aus-alkoholbelasteten-familien/
Foto: Werner Schneider (1) Logo: VIVID (1)