Kinder von alkoholkranken Eltern
Um die Kindheit betrogen
von Dr. Martha Flaschka
Kinder von alkoholkranken Eltern haben es besonders schwer. Kindliche Bedürfnisse wie Zuwendung, Verlässlichkeit und Geborgenheit erfahren sie, wenn überhaupt, nur sehr selten. Sie müssen sehr früh die Aufgaben des trinkenden Elternteils übernehmen und werden so zu Eltern ihrer Eltern - ein gefährlicher Rollentausch, der die eigene Entwicklung hemmt. Depression und schwierige Beziehungen im Erwachsenenalter sind meist die Folgen dieser Menschen, die um ihre Kindheit betrogen wurden. Dr. Martha Flaschka ist Psychotherapeutin der Fachsektion Psychodrama, Soziometrie und Rollenspiel und hat sich für „Alk-Info“ ausführlich mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern sind gezwungen, sich mit einem oder mehren Mythen in Ihrem Lebens auseinanderzusetzen, die ihr Familiensystem erzeugt und aufrechterhalten haben, so dass sie sich fragen, ob eine gesunde, intime Beziehung überhaupt ihren Preis wert ist.
In Familien mit suchtkranken Eltern bzw. einem abhängigen Elternteil herrscht eine andere Dynamik als in gesunden Familien. Die familiären Bedingungen unterscheiden sich durch eine Vielzahl von normabweichendem Verhalten. So stehen oft Streit und konflikthafte Auseinandersetzungen - zumindest eine disharmonische Beziehungsgestaltung - auf der Tagesordnung. Kinder und Jugendliche sind extremen Stimmungsschwankungen und Unberechenbarkeit ausgesetzt wie z.B. abrupte, nicht vorhersehbare Verhaltensänderungen – was heute gestimmt hat, gilt morgen nicht mehr.
Oft bilden sich Loyalitätskonflikte aus, egal zu welchem Elternteil sie sich auch zuwenden. Klarheit, Verlässlichkeit, Strukturen werden vermisst, nicht eingehaltene Versprechen, Vorsätze und Ankündigungen machen das Leben unüberschaubar. Durch einen Mangel an klaren Botschaften müssen sich die Betroffenen viele Überzeugungen und Werte selbst ausdenken. Die Eltern sind kein Vorbild. Ein Ich-Gefühl zu entwickeln braucht Sicherheit, Wissen und Instinkt.
Da die Eltern ihren Pflichten oft nicht nachkommen können und damit überfordert sind, sind gängige Folgen Vernachlässigung, aggressive Misshandlung bis zum sexuellen Missbrauch. Kindliche Bedürfnisse wie Zuwendung, Verlässlichkeit und Geborgenheit werden hier nicht ausreichend befriedigt. Im Gegenteil, die Kinder und Jugendlichen übernehmen Verantwortung für die Eltern und „So kann es zu einem Rollentausch kommen, der die Entwicklung hemmt. Eine Parentifizierung findet statt - Kinder werden zu Eltern ihrer Eltern“, stellte die 1882 in Wien geborene Psychoanalytikerin Melanie Klein fest.
Verstrickungen in die Probleme der Eltern durch übertriebene Fürsorge und frühe Übernahme von Verantwortung für sie durch diverse Hilfestellungen und Rettungsversuche machen es dann möglich, dass der suchtkranke Elternteil die Konsequenzen zu spät spürt. Co-Abhängige Angehörige übernehmen so die Verantwortung, entschuldigen und rechtfertigen die Sucht. Das kann so weit gehen, dass auch die Großeltern im Familiensystem verlangen, dass die Kinder für das Wohlergehen und die Beziehungsarbeit zuständig sind. Perfekt zu sein, sämtlichen Bedürfnissen des oder der anderen nachzukommen, ist auch ein Schutz vor der Angst verlassen zu werden, die sehr stark sein kann.
Gefühle müssen kontrolliert werden
Über Probleme und Gefühle der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird nie gesprochen. Innerhalb der Familie herrschen unklare Grenzen, so kann eine unausgesprochene Regel lauten: „Gefühle müssen kontrolliert werden.“ Verleugnen und Schweigen sind der Nährboden für das Abrutschen in die Isolation.
Die zentralen Themen in der Psychotherapie mit betroffenen Kindern und Jugendlichen sind: Schuld, Scham, Rückzug, Ängste, übertriebene Verantwortungsübernahme, fehlendes Vertrauen in sich und andere, psychosomatische Beschwerden, Wut, Aggression und Gewalt.
Gesunde Kinder und Jugendliche haben ausreichend Kontrolle über die eigenen Handlungen, sie können selbstbestimmt entscheiden. Ihre Anliegen werden gehört und nicht abgetan und ihre Erlebnisse nicht nach außen tabuisiert.
Die Schuldgefühle vieler erwachsener Kinder von Alkoholikern stecken so tief, dass sie glauben ihre bloße Existenz verursacht Probleme. „Wenn Du nicht so verdorben wärst, müsste ich nicht trinken.“ Vor allem wenn die Mutter Alkoholikerin ist, wird das Kind in seinen ersten Jahren nicht die Bindung erfahren, wie Kinder in anderen Familien.
Verletzlichkeit bedeutet für sie Selbstverlust, Machtlosigkeit und Vernichtung. Da jeder Mensch zum Wachsen neue Gedanken, Gefühle und Vorstellungen braucht, gelingt dies nur in dem man sich öffnet und das heißt Verletzlichkeit zulassen und die Kontrolle über die Gefühle schrittweise aufgeben.
Kinder von Alkoholikern werden oft depressiv
Ein Klima das von unterdrücktem Ärger geprägt ist, der sich niemals auflöst. Ärger zu äußern hat erfahrungsgemäß den Kindern nichts gebracht, es nur noch schlimmer gemacht. Stattdessen rationalisieren sie, bringen Dinge durch Erklärungen zum Verschwinden und werden schließlich depressiv. Zu viel Ärger kommt nur dann zum Vorschein, wenn er in rasende Wut umschlägt. Aus Angst, dass Ärger zu körperlicher Gewalt führt, muss er um jeden Preis verhindert werden.
„Wenn Du mich wirklich liebst, wirst Du auch nicht ärgerlich auf mich“ lautet die Botschaft, die sich ein erwachsenes Kind auf der emotionalen Ebene selbst vermittelt.
Kinder und Jugendliche alkoholkranker Eltern leben oft am Rande von Traurigkeit und eventueller chronischer Depression, die wie schon erwähnt zum Teil Folge des unterdrückten Ärgers sein kann, der sich nach innen, gegen sich selbst, richtet. Es hat auch zu tun mit Verlusterfahrungen. Aber wesentlich bedeutender ist die Tatsache, das erwachsene Kinder von Alkoholkranken nicht dazugekommen sind, Kind zu sein. Nicht die Erfahrung machen konnten was es heißt spontan, unvernünftig und kindisch zu sein und all die Dinge zu tun, die Kinder normalerweise tun. Es gab keine Gelegenheiten für Spaß und oft wissen sie auch gar nicht was Spaß überhaupt ist.
Grenzen müssen respektiert werden
„Ich bin fröhlich und mache ein glückliches Gesicht, damit man nicht sieht, wie groß mein Schmerz ist.“ Eigene und fremde Grenzen zu respektieren fällt schwer, wenn ein junger Mensch mit einem alkoholkranken Elternteil nie wusste, in welcher Rolle als Vater, Mutter oder Kind er jeweils agierte. Wer hatte den Schmerz? Was ist privat? Welche Dinge sind persönlich und können nicht weggenommen werden? Wo ist die Grenze des guten Geschmacks, was ist noch angemessen, was wird auf keinen Fall von der Gesellschaft toleriert?
Jeder Mensch hat andere Grenzen und hier ist viel Einfühlungsvermögen und Reden notwendig, um diese zu achten. „Manchmal will ich ganz ich selbst sein, deshalb will ich, dass mein Raum respektiert wird.“
Nichts zu erwarten verhindert Verluste, aber reduziert auch die Gewinnchancen. In gesunden Beziehungen gibt es Erwartungen und ein gemeinsames Engagement, dass diese erfüllt werden. Gedanken lesen kann niemand. Trotzdem kann es vorkommen, dass ein geäußerter Wunsch nicht erfüllt wurde. Haben Sie etwas gefordert was unerfüllbar war oder ist der Partner zu selbstbezogen um sich auf Sie einstellen zu können? Das zu erkennen ist wichtig. Gegenseitige Erwartungen mit denen beide Partner übereinstimmen, sind für eine gesunde Beziehung wesentlich. Vermehrte Zuwendungsbedürfnisse werden von einem distanzierten Partner nicht erfüllt, eine geglückte Beziehung funktioniert dann nicht.
Heikle Punkte ansprechen
Zuviel Kontrolle kann zu Machtkämpfen führen, gesund ist diese Partnerschaft nicht. Geben und Nehmen, Teilen der Verantwortlichkeiten und Hilfe annehmen können ohne das Gefühl haben zu müssen, auf ewig dankbar und vielleicht auch abhängig zu sein ist der Herzenswunsch. Die Überzeugung am Boden zerstört zu sein, die nur durch emotionale Kontrolle und Kontrolle über die Situation verhindert werden kann - hat sich dann überlebt. Der Satz „Ich brauche Dich nicht“ der betroffene Kinder und Jugendliche davor schützt – sollte der Vergangenheit angehören.
„Ruf mich an, wenn es später wird“ kann eine Vereinbarung sein, die auf Respekt gründet. Heikle Punkte müssen angesprochen, wenn ein Partner überhaupt kein Zeitgefühl hat und die Angst des anderen nicht verstehen kann. Falsch verstandene Treue kann zerstörerisch wirken. Jugendliche und erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern bleiben oft auch dann in einer Beziehung, wenn das gesunde Maß überschritten wurde. Werden Probleme nicht gelöst, dann hilft die Phantasie, dass es doch irgendwann besser werden wird, nicht. Als Kind war das Klammern an diese Vorstellung der einzige Ausweg – aber eben nur ein Wunsch. Der damals nicht erfüllt wurde und heute auch nicht. Durch die nachgeahmten Treue in Familien mit Alkoholmißbrauchverstrickung - kommt es seltener zu Trennungen. Aber Verlust und Schmerz ist ein Teil des Wachstumsprozesses. „Wenn etwas am Werke ist, dass nicht zu Ihrem Wohle ist, denken Sie an die ersten Prägungen in Ihrer Kindheit“, stellte die 1994 verstorbenen US-Psychologin Janet G. Woititz fest.
Diese Anerkennung der Gefühle beim anderen bedeutet nicht unbedingt Übereinstimmung sondern beruht auf dem Respekt sowohl für Ähnlichkeiten wie auch für Unterschiede.
Janet G. Woititz, Autorin des Buches „Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit“, zählt 13 Faktoren auf, die das Leben von Kindern und Jugendlichen alkoholkranker Eltern regieren können:
1.) Die Vorstellung, was normal ist, fehlt
2.) Ein Vorhaben von Anfang bis Ende durchzuführen ist erschwert
3.) Oftmals wird gelogen, wo es ebenso leicht wäre, die Wahrheit zu sagen
4.) Sie verurteilen sich selbst gnadenlose
5.) Es fällt ihn schwer, Spaß zu haben
6.) Sie nehmen sich selbst sehr ernst
7.) Intime Beziehung bereiten ihnen Schwierigkeiten
8.) Sie zeigen eine Überreaktion bei Veränderungen, auf die sie keinen Einfluss haben
9.) Eine Sucht nach ständiger Anerkennung und Bestätigung kann vorliegen
10.) Sie glauben anders zu sein, als andere Menschen
11.) Extreme Zuverlässigkeit wird auch dann gezeigt, wenn jemand oder etwas diese gar nicht verdient
12.) Sie können entweder übertrieben verantwortlich sein oder total verantwortungslos
13.) Sie neigen zu Impulsivität, zeigen festgefahrene Verhaltensweisen ohne alternative Handlungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen bzw. die eventuellen Konsequenzen ernsthaft zu bedenken. Andere Menschen sind von dieser Impulsivität verwirrt, selbst verachten sie sich dafür, dass sie die Kontrolle verloren haben. Enorm viel Energie muss aufgebraucht werden, um das angerichtete Durcheinander wieder zu beheben.
Schlussendlich einen Blick auf das ganze Bild der Betroffenen, die mit Suchmittelmissbrauch aufwuchsen, sich damit auseinandersetzen und um Nähe bemühen. Das durch Alkoholismus beeinträchtigte Familiensystem ist gestört. Gestörte Systeme bringen gestörte Beziehungen hervor. Was als Kind erfahren wurde kann bedeuten, dass es so nicht gemocht wird, heißt aber nicht zu wissen, was man möchte. Wie schaut eine gesunde Beziehung aus, wie kommt man dorthin? Sicher mit Anstrengung und dem Ablegen alter Gewohnheiten, mit Fehlern und Phasen der Entmutigung. Aber mit Gemeinsamkeit, Kameradschaft, Liebe, Vertrauen, Verständnis, Zusammenarbeit, Freude, Wachsen, Sicherheit und Gelassenheit.