Ein ehemaliger Intensivmediziner erzählt
„Als Arzt steht man im Dauerfeuer!“
von Harald Frohnwieser
Jeder dritte Arzt ist mit seinen Arbeitsbedingungen unzufrieden, jeder zweite ist burnoutgefährdet. Prof. Klaus Ratheiser hat mehrere Bücher über dieses brisante Thema herausgebracht. Der Mediziner aus Kärnten weiß, wovon er schreibt – er hat 13 Jahre lang in der Intensivmedizin gearbeitet, acht Jahre war er Chef einer Intensivstation im Wiener AKH. 2003 ist er ausgestiegen. Jetzt schult er Ärzte, Pfleger und Schwestern, wie sie mit ihrem alltäglichen Stress besser zurande kommen. Im „Alk-Info“-Interview erzählt er, warum er diesen Schritt gesetzt hat. Und ist überzeugt: „Ein Arzt, der sich selber nicht gut versorgen kann, ist keine große Hilfe für den Patienten.“
Gleich nach der Morgenübergabe fährt Mirko mit seiner Frau und seinem zwölfjährigen Sohn Sascha nach Linz zu einem Kongress. Gearbeitet hat er bis drei Uhr morgens im Krankenhaus, aber da konnte er sich nur noch schlecht konzentrieren. Die Zahlen, die er in den Computer eintippte, brachte er immer wieder durcheinander, geschlafen hat er nicht. Während der Fahrt sitzt er starr am Steuer, spricht kein Wort, starrt nur auf die Straße. Dann die vielen Vorträge, die nervenaufreibenden Diskussionen mit den Kollegen. Nach dem Kongress gibt es eine Einladung eines Pharmaunternehmens für alle Ärzte. Mirko sitzt mürrisch am Tisch, seine Schultern sind hochgezogen, die Krawatte baumelt lose am Hals. Als der Nachtisch serviert wird, freut sich Sascha über sein Eis – und stößt dabei sein Glas mit dem Orangensaft um. Da brennen bei Mirko die Sicherungen durch – wütend drückt er seinem Sohn eine schallende Ohrfeige ins Gesicht. Der Junge ist geschockt, bringt zunächst keinen Ton aus sich heraus. Dann aber vergräbt er sein Gesicht in seinen Armen und heult. Seine Mutter steht auf: „Der Junge ist schon sehr müde“, sagt sie und verlässt mit Sascha den Raum. Mirko bleibt regungslos zurück.
Supervision
„In diesem Fall haben sich Spannungen aufgebaut, die dann irgendwer abbekommt, der wirklich nichts dafür kann“, sagt der ehemalige Leiter einer Intensivstation im Wiener AKH Klaus Ratheiser. Der Mediziner beschreibt mit dieser plastisch geschilderten Szene in seinem Buch „Dauerfeuer“ (Seifert Verlag) das verborgene Drama von Ärzten, Schwestern und Pflegern in Krankenhäusern, dem sie tagtäglich ausgesetzt sind: Nachtdienste, Wochenenddienste, sterbende Patienten und deren Angehörige, Chefs, die Druck ausüben, Seminare an den Wochenenden und die eigene Familie, die viel zu kurz kommt. Wie viel nimmt ein Arzt von seiner anstrengenden Arbeit mit nach Hause? „Sehr viel, wenn man nicht die Gelegenheit hat, das, was am Tag so vorgefallen ist, im Beruf anzusprechen, zum Beispiel durch eine Supervision“, antwortet der gebürtige Kärntner, der seit einigen Jahren Krankenhausmitarbeiter darin coacht, mit ihrem Stress richtig umzugehen. Und weiter: „Wer diese Möglichkeit nicht hat, sucht nach einer Krückenlösung, schreit aus einem nichtigen Grund seine Partnerin oder sein Kind an oder er greift zum Alkohol oder anderen, für Ärzte leicht zugängliche chemische Substanzen. Oder er nimmt sich das Leben, auch das kommt immer wieder vor. Thematisiert wird dies freilich nicht.“
Dem Doc sein tägliches Weihnachtsbock
Apropos Alkohol. Immer wieder schreibt Klaus Ratheiser, wie entspannend es für ihn war, seinen Frust, seinen Stress mitunter mit Hochprozentigem runter zu spülen. „Im Seitentürfach des Kühlschrankes steht eine Flasche Obstler – aus Kärnten. Ein Schluck aus der Heimat. Wieso auch nicht? Brennt so würzig hinunter und entspannt. Einen Doppelten oder zwei. Ein ,Menü' sozusagen. Zum Bier dazu. Ein selbst zusammengestelltes Bock-Bier. Dem Doc sein täglicher Weihnachtsbock!“
Erstmals über den alltäglichen Wahnsinn in seinem Leben hat Klaus Ratheiser nachgedacht, als er aufgrund einer körperlichen Beschwerde plötzlich neurologischer Patient wurde. „Da wurde mir bewusst, dass ich etwas ändern muss, um meine Träume von einem erfüllten Leben zu verwirklichen“, sagt er. Zeitgleich steckte der Arzt, der in Wien, Zürich und in den USA studiert hatte, in einer persönlichen Krise: „Meine zweite Ehe stand vor dem Aus“, erinnert er sich. Zwei Jahre später war es so weit: Ratheiser nahm sich einen unbezahlten Urlaub von zwei Jahren: „Ich habe alles, was ich besessen habe, investiert, auch weil ich meine Kinder gut versorgen wollte.“ Im ersten Jahr schrieb er sein erstes Buch und im zweiten Jahr wurde ihm bewusst, dass er in seinen alten Rhythmus nicht mehr zurückkehren konnte. „Das haben nicht alle in meinem Umfeld verstanden. Aber ich habe von meinen Patienten, die ich beim Sterben begleitet habe, das Vermächtnis empfunden, etwas aus meinem Leben zu machen.“ Ein mutiger Schritt. Und ein notwendiger. Denn: „Erst im Nachhinein habe ich gemerkt, wie gefährdet ich bereits war.“
Es gibt Änderungen
Wie sieht es heute aus, gibt es eine Bewusstseinsbildung auf diesem Gebiet? „Ja, es sind Änderungen da, zwar nicht flächendeckend und immer noch zu wenige, aber sie sind da“, stellt Ratheiser fest. Und: „Als ich damals ausgestiegen bin, hat es für Spitalsmitarbeiter noch keine Supervision gegeben. Jetzt gibt es die, und das ist schon was. Ich habe mir damals immer ein rotes Telefon gewünscht, wo ich hingreifen und anrufen kann.“ Im Wiener Krankenanstaltenverbund wird Supervision seit einigen Jahren angeboten, aber nicht alle Ärzte nehmen dieses Angebot an. Dabei ist es, so Ratheiser, sehr wichtig, dass sich ein Arzt aussprechen kann. „Für die Sorgen eines Arztes muss man sich Zeit nehmen, der braucht jemanden, der ihm zuhört, der seine Probleme versteht. Wenn ein Arzt jemanden hat, mit dem er offen reden kann, dann geht er anders nach Hause, denn der wurde nicht alleine gelassen“, ist er überzeugt. Nachsatz: „Das Alleinlassen traumatisiert unsere Jugend.“
Er will niemanden, der Hilfe sucht, alleine lassen. „Ich hielt in den letzten Jahren mehr als 2000 Einzelstunden ab, da sind die Gruppen noch gar nicht mitgezählt“, sagt er. Was bringt es dem Einzelnen, wenn er über seine Berufssorgen spricht? „Sehr viel. Ich war anfangs immer wieder erstaunt, wie rasch eine Erleichterung oder gar Heilung erfolgt. Oft spürt man schon nach einem Erstgespräch, dass sich etwas Wesentliches geändert verändert hat, dass sich ein Schalter umgedreht hat. Die Teufelskreisenergie wurde ganz einfach unterbrochen.“ Freilich kann es, ist jemand bereits an Burnout erkrankt, nicht nur bei der Supervision bleiben. „Oft ist ein Arbeitsplatzwechsel notwendig, aber das braucht meistens eine gewisse Zeit, das geht nicht von heute auf morgen“, so Ratheiser. Denn: „Loslassen können ist eine wichtige Voraussetzung für eine Veränderung.“
Generation Y
Klaus Ratheiser blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft: „Kürzlich war bei einem Kongress der österreichischen Notfallmediziner Burnout ein Thema. Es wurde darüber referiert, wie man da wieder raus kommt und wie man es vermeiden kann. So etwas wäre vor zehn Jahren noch als Gefühlsduselei abgetan worden.“ Und es gibt eine neue Ärztegeneration, die Generation Y. „Das sind junge Ärzte, die nicht nur Karriere machen wollen, die fordern geregelte Arbeitszeiten, die wollen gute Ärzte sein, aber sie wollen auch leben, ein Familie haben, die nicht zu kurz kommt.
Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, weil wir sonst bald niemanden mehr haben werden, der sich bewirbt.“
Bücher wird Klaus Ratheiser jedenfalls weiter schreiben: „Das Schreiben ist für mich zu einer wichtigen Daseinsform geworden“, sagt er. Und wirkt dabei entspannt und mit sich und der Welt zufrieden. So, wie ein guter Arzt sein sollte. Ist er es nicht so ist es „gefährlich für die Seele des Arztes und für den Patienten“, ist Klaus Ratheiser überzeugt.
Fotos: Thomas Frohnwieser (4)