Prof. Michael Musalek vom Anton-Proksch-Institut in Kalksburg:
„Die Individualität des Einzelnen ist uns sehr wichtig!“
von Harald Frohnwieser
Das Anton-Proksch-Institut (umgangssprachlich nur „Kalksburg“ genannt) am südlichen Stadtrand von Wien, ist Europas größte Suchtklinik. Seit 2004 ist Prof. Michael Musalek als ärztlicher Direktor für 2000 Patienten verantwortlich. „Alk-Info“ sprach mit dem Suchtspezialisten über neue Therapiewege und neue Erkenntnisse, über neue Behandlungsziele und über Alkoholiker, die leider immer jünger werden.
„Alk-Info“: Herr Prof. Musalek, Sie haben als ärztlicher Direktor von Kalksburg das Therapie-Programm vor rund zwei Jahren umgestellt. Was hat sich für die Patienten geändert?
Prof. Michael Musalek: Früher ging es nur darum, die Alkohol-Abstinenz mit aller Gewalt zu erhalten. Von dem sind wir abgegangen. Uns geht es jetzt vor allem darum, dass die Patienten wieder ein spannendes, faszinierendes und freudvolles Leben führen können. Ziel ist, dass der Alkohol dabei als ein Störfaktor wahrgenommen wird.
Aber die Abstinenz ist schon noch ein Ziel?
Ja, aber nicht unbedingt das End-, sondern ein Teilziel. Das heißt, wenn jemand innerhalb von einem Jahr ein Mal einen Rückfall hat, dann aber wieder zu einem freudvollen, autonomen Leben zurückfindet, dann sprechen wir auch in diesem Fall von einem Behandlungserfolg. Das ist wie bei Diabetes. Wenn ein Diabetiker ein Mal im Jahr einen Hypo hat, sonst aber schöne Blutzuckerwerte, spricht man trotzdem von einem Behandlungserfolg. Wenn jemand hingegen bereits ein Jahr trocken ist, es aber nicht schafft, autonom und zufrieden zu leben, dann hätten wir mit unserer Therapie versagt.
Wie lange dauert eine stationäre Therapie?
Es gibt keine fixen Zeiten mehr. Früher waren es sechs bis acht Wochen, jetzt bieten wir eine individuelle Behandlung an, die bei dem Einen kürzer, bei dem Anderen länger dauern kann.
Wie gehen Sie mit dem Begriff Sucht um?
Man spricht heute oft viel zu schnell von einer Sucht. Wenn jemand gerne Schokolade ist, dann heißt es gleich, er ist schokoladesüchtig. Es gibt auch keine Zuckersucht oder Bräunungssucht. Eine Sucht ist immer ein komplexes Geschehen, das darf man nicht verwässern. Einfache Lösungen dafür gibt es nicht. Deshalb bieten wir auch eine komplexe Behandlung an.
Wie sieht diese in der Praxis aus?
Also, am Beginn einer Therapie stehen die körperlichen Symptome im Vordergrund. Und auch psychische Erkrankungen. Ob zum Beispiel eine Depression vorhanden ist, oder ein Burnout. Zwei praktische Ärzte kümmern sich im stationären Bereich um die körperlichen Erkrankungen der Patienten. In den beiden anderen Dritteln der Therapie geht es darum, dass der Patient lernt, sein Leben neu zu gestalten. Da bieten wir Einzelgespräche an und natürlich auch Gruppentherapien, die ich persönlich für sehr wichtig halte.
Warum?
In einer Gruppentherapie lernt Einer vom Anderen, das ist ein wesentlicher Punkt. Wenn jemand von seinem Problem erzählt, wissen die Anderen ganz einfach, wie es ihm dabei geht, was er meint, was er fühlt. Da lernt man, ehrlich zu sein, ehrlich zu den Anderen und vor allem zu sich selber.
Was wird noch geboten?
Da gibt es vor allem den Bereich „lebensnahe Gestaltung“, mit Hilfe des Orpheusprogramms soll das Suchtmittel seine Verführungskraft verlieren. Erreicht wird das durch Werkstätten für jene, die handwerklich etwas tun wollen, es gibt kulturelle Angebote, Sport, Körperwahrnehmungsgruppen, Sensibilitätsgruppen und Achtsamkeitsgruppen, wo man lernen kann, das Schöne im Leben wieder wahrzunehmen. Denn bei Alkoholkranken gibt es drei große Probleme: 1.) Sie halten für sich selber nichts mehr für möglich. 2.) Sie können sich selber nicht mehr als Ganzes spüren. 3.) Sie können kein schönes Leben mehr führen. Bei allen Dreien muss man ansetzen.
Aber Alkoholkranke und oft auch deren Angehörigen neigen dazu, ihre Situation zu beschönigen.
Das stimmt zwar, aber ich halte nichts vom Beschönigen einer scheußlichen Situation. Man kann aber lernen, dass es neben einer solchen Situation auch schöne Dinge gibt.
Früher hat es – auch in Kalksburg – immer von Seiten der Ärzte und der Therapeuten geheißen, wenn Du alkoholkrank bist, dann darfst Du nie wieder trinken.
Stimmt. Aber ich halte von einem „Du darfst nicht“ überhaupt nichts. Ich frage meine Patienten immer, ob sie aufhören wollen oder aufhören müssen. Wenn sie nur müssen, dann wird das nicht funktionieren. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem sie aufhören wollen, geht's. Es ist wie bei dem sogenannten guten Vorsatz, der ja nur dazu da ist, um gebrochen zu werden.
Außerdem weiß man ja nie, was einem das Leben so bringt.
Richtig. Ich selber weiß ja auch nicht, was mir die nächsten fünf Jahre bringen werden. Diese Hochrechnung auf ein ganzes Leben ist doch völlig absurd. Abgesehen davon, dass kein Mensch weiß, wie lange er noch leben wird.
Wenn ich Sie richtig verstehe, geben die Therapeuten in Kalksburg keine Anweisungen dafür, wie man richtig leben soll?
Ganz genau. Früher hat es die Moraltherapie gegeben, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Da haben die Therapeuten gesagt, wie man richtig zu leben hat und das mit den Patienten geübt. Das war fatal, weil ein Jeder eine andere Vorstellung davon hat, wie er sein Leben gestalten will. Wir haben daher keine Trainingseinheiten, sondern es geht uns darum, Räume und Atmosphäre zu schaffen, wo der Einzelne das für sich entdecken kann, was ihm gut tut.
Das Anton-Proksch-Institut ist aber auch wie eine Insel, das richtige Leben findet draußen statt. Was passiert nach seiner Entlassung?
Er kann sich zum Beispiel in einer unserer Ambulanzen weiter behandeln lassen. Es können aber auch andere Institutionen sein wie z.B. die Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA).
Wie stehen Sie zu dieser Selbsthilfegruppe?
Wir haben unterschiedliche Zugänge, aber jede Umgangsform hat seine Qualität. Es braucht jeder die Hilfestellung, die für ihn optimal ist. Für manche ist das Konzept der AA optimal, für andere halt nicht. Ich bin ganz für eine Behandlungsvielfalt, für Individualität.
In den Medien ist oft von jugendlichen Koma-Säufern zu hören und zu lesen. Täuscht der Eindruck oder werden die Alkoholiker tatsächlich immer jünger?
Der Eindruck täuscht nicht. Früher lag das Durchschnittsalter unserer Patienten zwischen 40 und 45 Jahren, jetzt liegt es zwischen 30 und 35. Der jüngste Patient, den wir hatten, war erst 16 Jahre alt. Der hat mit elf angefangen zu trinken, mit zwölf trank er schon regelmäßig und hat sich dann vier weitere Jahre regelmäßig hochdosiert. Das Problem ist ja, dass die Jungen gleich hoch dosiert anfangen. War es früher Bier oder Wein so ist es jetzt Wodka. Früher war das Rauschtrinken nicht so verbreitet, da ist ein Rausch halt passiert. Heute wird direkt darauf abgezielt, und das möglichst innerhalb von einer Stunde.
Gibt es sonst noch Veränderungen beim Umgang mit dem Alkohol?
Wir sehen einen Anstieg bei den alkoholkranken Frauen. Vor allem die Mädchen holen schnell auf. Bei den Unter-16-Jährigen, die bereits mehrfache Rauscherfahrungen haben, liegt das Verhältnis 2:1. Das heißt, auf zwei Burschen kommt bereits ein Mädchen. Früher war es 4:1.
Haben Sie darauf reagiert?
Das haben wir. Es gibt keine Frauen- und Männerabteilungen mehr so wie früher einmal. Jetzt sind alle Abteilungen gemischt, damit konnte man die Zahl der Frauenbetten deutlich steigern.
Gibt es auch einen positiven Trend, den Sie feststellen können?
Im Arbeitsbereich hat sich einiges geändert. Früher einmal musste man Arbeitern oft eine Kiste Bier hinstellen, damit sie mit ihrer Arbeit überhaupt beginnen, das ist jetzt Gott sei Dank nicht mehr so. Auch in manchen Berufskantinen wird kein Alkohol mehr angeboten. Das gilt selbstverständlich auch für unser Institut. Bei uns herrscht ein striktes Alkoholverbot für alle Mitarbeiter. Das sollte auch bei allen Kuranstalten und Spitälern so sein. Ich sehe nicht ein, warum in den Kantinen mancher Krankenhäuser immer noch Alkohol angeboten wird. Da muss man noch ein größeres Bewusstsein dafür schaffen.
Anton Proksch Institut
1230 Wien, Gräfin Zichy Straße 6
Tel.: +43 (0)1/880 10 - 0
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Web-Adresse: www.api.or.at
Fotos: Harald Frohnwieser (2), Anton-Proksch-Institut (3) Logo: Anton-Proksch-Institut (1)