NUR VERSAGER SAUFEN?

Wer viel leistet, wird es einmal zu etwas bringen im Leben, sagt man. Und damit dieser Spruch auch tatsächlich umgesetzt wird, kommen immer mehr Eltern auf die Idee, von ihren Kindern Höchstleistungen zu fordern. Das beginnt oft schon im zarten Alter von sechs, sieben Jahren, also dann, wenn die Kleinen gerade dabei sind, in der ersten Volksschulklasse das Einmaleins oder die Buchstaben zu erlernen. Dass so manches Kind bei der einen oder anderen Herausforderung etwas länger braucht als die anderen Altersgenossen, ist zwar normal, versetzt jedoch immer mehr Mütter und Väter in Panik. Was folgt sind oft schon an Stalking herankommende Anweisungen an die Lehrerin, wie sie das Kind zu unterrichten hat, Hinweise darauf, was sie alles falsch macht und die Drohung, zum Direktor, der Direktorin oder gar zum Stadt- oder Landesschulrat zu gehen, um sich über sie zu beschweren. Und bei einer schlechten Note – einen Dreier oder gar Vierer – wird nicht selten mit dem Rechtsanwalt gedroht. Eine Mutter, von der mir eine Bekannte, die ein Kind in der ersten Klasse hat, erzählte, drohte ein paar Monate nach Schulbeginn, ihr Kind in eine andere Schule zu geben, weil es Schwierigkeiten hatte, einen einzigen Buchstaben richtig zu schreiben. Welch eine Katastrophe! Da ist das Kind schon zwei oder drei Monate in der Schule und kann noch immer nicht perfekt lesen und schreiben.
Wer nicht funktioniert, wird bestraft
Dass man mit solchen Aktionen nicht nur die Lehrerin verunsichert, ist klar. Denn was wird dem Kind signalisiert: „Wenn du nicht so funktioniert, wie wir es von dir erwarten, setzt es eben Sanktionen. Dann kommst du in eine neue Schule, musst dich an eine neue Lehrerin gewöhnen und schauen, wie du in eine bereits bestehende Klassengemeinschaft hineinfindest. Wie es dir dabei ergeht, ist uns völlig egal, Hauptsache du bist perfekt!“
Was das alles mit Alkohol zu tun hat, werden Sie jetzt fragen. Auf den ersten Blick natürlich nichts, auf den zweiten jedoch sehr viel. Denn aus verunsicherten Sechsjährigen werden stets unter Druck stehende Pubertierende, die irgendwann einmal – sei es von selbst oder durch einen Freund – auf die entspannende Wirkung des Alkohols kommen. Sie werden merken, dass das Leben auch seine angenehme Seiten hat, die frei von Leistungsstress sind, aber freilich nur, wenn sie sich zuerst ein gewisses Quantum an Wodka hineingeschüttet haben. Diese Jugendlichen werden nie gelernt haben, dass Alkohol zu genießen da ist, sie werden ihn ausschließlich wegen der Wirkung trinken.
Zählen nur noch die Noten?
So züchtet man sich eine neue Generation von Alkoholikern heran, die ohne ihren Sprit keine Entspannung mehr im Leben finden. Denn immer funktionieren zu müssen, immer beweisen zu müssen, dass man zumindest genauso gut ist wie alle anderen Altersgenossen, das kann ziemlich anstrengend sein. Viele Eltern, für die eine Welt zusammenbricht, wenn die Tochter, der Sohn einmal keinen Einser nach Hause bringt, merken gar nicht, was sie ihrem Kind damit antun, sondern sie meinen es ja nur gut. Deshalb muss das Kind auch in den Sommerferien büffeln, obwohl es gar keine negative Note im Zeugnis hat. Ein Dreier in Mathe oder Englisch reicht da oft schon aus. Mein Kind soll leistungsfähig sein, denn sonst kann es in dieser Welt nicht bestehen, sind ehrgeizige Eltern der Ansicht. Freilich haben sie damit nicht ganz unrecht, aber was genau ist Leistung? Wird die nur an den Noten gemessen? Oder zählen auch andere Werte wie Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit, Rücksichtnahme oder Höflichkeit dazu? Ist es nicht auch eine Leistung, den besten Freund zu trösten, wenn es ihm schlecht geht, einem alten Menschen im Autobus den Platz anzubieten oder zu jemandem zu stehen, auch wenn er von anderen gemobbt wird? Doch diesen Werte sehen viele Erziehungsberechtigte nicht mehr bei ihren eigenen Kindern. Das Kind muss unbedingt das Abitur, die Matura schaffen, um danach zu studieren. Schafft es das nicht, dann hat es versagt. Und wird zum Säufer, weil nur Versager zu viel Alkohol trinken.
Wer mehr arbeitet, trinkt mehr
Doch genau das stimmt nicht. Jedenfalls nicht so, wie oft behauptet wird. Auch der angesehene Arzt, Wissenschaftler oder Unternehmer greift zur Flasche, weil er den Druck, dem er sich ausgesetzt fühlt, nicht mehr standhält, weil das Arbeitspensum einfach zu hoch ist (siehe auch „Ins Out gekickt“). Eine Studie, die das „British Medical Journal“ veröffentlichte, hat die Trinkgewohnheiten von 333.000 Menschen quer durch Europa ausgewertet und kam zu folgendem Schluss: Menschen, die permanent Überstunden machen, trinken um 13 Prozent mehr Alkohol als jene, die „nur“ 40 Stunden pro Woche arbeiten. „Es ist interessant, dass die negativen Folgen exzessiver Arbeitswut unabhängig vom Geschlecht, Alter oder Klasse sind“, so der Wissenschaftler Karl-Heinz Ladwig vom Helmholtz Zentrum München, der an der Studie beteiligt war. Die Studienleiterin Marianna Virtanen aus Finnland ergänzt: „Wenn der Druck im Job hoch ist und die Anforderungen zunehmen, machen Menschen Überstunden. Dadurch werden Belastungen nicht weniger, im Gegenteil – um den Stress zu lindern, greifen Menschen zum Alkohol.“
Mehr Stress und Druck von den Eltern
Laut einer im Juni 2015 in Österreich durchgeführten Studie, trinken die Elf- bis Siebzehnjährigen zwar etwas weniger Alkohol als in den Jahren zuvor, doch Stress und Belastung haben enorm zugenommen. Jedem fünften gefällt es demnach in der Schule nicht, weil die Anforderungen seitens Lehrer und Eltern zu hoch sind, ein Viertel der Befragten kommt mit dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, kaum noch zurecht. Apropos Alkohol: Auch wenn die Jüngeren weniger trinken, trinken laut einer anderen Studie die älteren Jugendlichen dafür umso mehr, wie „Alk-Info“ bereits berichtet hat (siehe auch „Unsere Teenager trinken viel zu viel!“).
„Die Kinder sind sehr reizüberflutet, haben mehr Stress und Druck von den Eltern“, bringt es Studienleiterin Rosemarie Felder-Puig vom Ludwig Boltzmann Institut auf den Punkt. Ein Stress, der schon im Volksschulalter und teilweise sogar schon im Kindergarten beginnt, wo die Kinder weniger spielen, dafür umso mehr lernen müssen.
Wenn schon bei den ganz Kleinen der Ausgangspunkt fürs Stresssaufen gesetzt wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn sie später, als Jugendliche oder junge Erwachsene, ihre Belastungen regelmäßig wegsaufen. Und wenn sie Glück haben, rechtzeitig zu einer Alkoholtherapie finden.

Ihr Harald Frohnwieser