Provokant: Alkoholismus keine Krankheit?
Nur eine Störung der Willensentscheidung?
von Harald Frohnwieser
Schon im Jahr 1849 definierte der schwedische Arzt Magnus Huss (1807 – 1890) als Erster, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. 103 Jahre später stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach Erkenntnissen des US-Soziologen Elvin Morton Jellinek (1890 – 1963) die Alkoholsucht offiziell als eine Krankheit ein, seit 1968 können sich Alkoholabhängige in Deutschland auf Kosten der Krankenkassen oder Rentenversicherungen stationär oder ambulant behandeln lassen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde diese Erkenntnis von ernstzunehmenden Ärzten und Sucht-Therapeuten nicht mehr angezweifelt. Doch der US-Psychologe Gene Heyman, der in der angesehenen Harvard Medical School unterrichtet, behauptet, dass es sich bei einer Sucht lediglich um eine Willensschwäche und nicht um eine Krankheit handelt. Ähnliches gibt auch der Neurowissenschaftler Marc Lewis von sich und vertritt die These, dass es sich bei einer Sucht nur um eine neurale Formbarkeit geht. „Alk-Info“ hat dazu den Leiter der angesehenen Therapieeinrichtung „Zukunftsschmiede“ Christian Voggeneder, befragt, was er von diesen Ansichten hält. Um es kurz zu sagen: nichts!
Es sei völlig falsch, Alkoholabhängige als Kranke zu behandeln, schreibt Gene Heyman in seinem Buch „Addiction: A disorder of choice“. Vielmehr solle man, so der Psychologe, Alkoholiker motivieren, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. „Alkoholismus ist keine Krankheit, sondern vielmehr eine Störung der Willensentscheidung“, ist er der provokanten Ansicht. Dass eine körperliche Abhängigkeit eine Genesung erschwert, davon ist auch Heyman überzeugt, doch seine Meinung ändert er deshalb nicht. Er verweist vielmehr daraufhin, dass angeblich mehr als die Hälfte aller Abhängigen – sei es von Alkohol oder von illegalen Drogen – es aus eigener Kraft schaffe, von der Sucht loszukommen.
Falk Kiefer, Professor für Suchtforschung und ärztlicher Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, Deutschland, lässt dieses Argument freilich nicht gelten und bezeichnet die von Heyman angeführten Selbstheilungen als pure Illusion, da die Statistiken über spätere Rückfälle keine Auskunft geben. Für Kiefer steht fest, dass eine Sucht dem Abhängigen keine Wahlfreiheit mehr lässt, weil dessen Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkt ist.
Veränderungen im Gehirn nicht krankhaft
So gut wie alle Suchtforscher sind sich darüber einig, dass Drogen – und Alkohol ist eine – das Gehirn schädigen und verändern. Das sieht auch Heyman so, aber: „Solche Veränderungen sind nicht krankhaft und belegen auch nicht das Ausschalten des Willens.“ Seine Begründung: „Auch willentliche Handlungen führen zu Umbauten im Neuronengeflecht. Wer täglich Musik übt oder Mathematikaufgaben paukt, verändert sein Gehirn.“
Neurowissenschaftler machen für die Entstehung einer Sucht die gesteigerte Dopaminausschüttung verantwortlich. Dopamin ist ein Botenstoff und regt das Belohnungssystem im Gehirn an, Alkohol und andere Drogen regen die Ausschüttung an – eine Erfahrung, die ein Alkoholiker regelmäßig braucht, um nicht in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen (siehe auch „Glückshormon ist oft schuld am Rückfall“). „Zweifellos führen viele Suchtmittel zu einer Veränderung im Dopaminlevel“, teilt Gene Heyman diese Erkenntnis, ist aber der Ansicht, dass Dopamin zwar den Unterschied zwischen Lust und Unlust ausmache, aber nicht den Unterschied zwischen einer Sucht oder einer Nicht-Sucht: „Das mit Dopamin betriebene Belohnungssystem tritt bei jeder Aktivität in Aktion, die angenehme Zustände verspricht – aber das alleine macht noch nicht süchtig.“ Der streitbare Professor ist vielmehr davon überzeugt, dass man einen Alkoholiker lediglich motivieren muss, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – und schon komme er von der Flasche weg. Es brauche lediglich eine lohnendere Lebensperspektive wie eine neue Liebe oder einen anderen Job - und schon sei die Sucht überwunden, behauptet er allen Ernstes. Heyman übersieht dabei, dass es viele Alkoholkranke gibt, bei denen alles stimmt: Familie, Beruf, gesellschaftliche Akzeptanz – und trotzdem trinken sie. Warum das so ist, können auch Suchtforscher nicht schlüssig erklären.
„Man kann jede Sucht überwinden“
Dass eine Sucht keine Krankheit ist, davon ist auch der US-Neurowissenschaftler Marc Lewis überzeugt. Lewis, der bereits mehrere Bücher geschrieben hat, war selbst opiatabhängig und vertritt so wie Gene Heyman die These, dass man jede Sucht überwinden kann. „Es geht bei einer Sucht nur um eine neurale Formbarkeit“, sagt er im Interview mit der Zeitschrift „Vice“. Auf die Frage, wenn es sich bei einer Sucht nicht um eine Krankheit handelt, was sie dann genau wäre, antwortet Lewis: „Sucht hat viel mit Isolation und Einsamkeit zu tun – dem Fehlen von Hilfe und tiefgreifenden Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn man sich nur oberflächlich mit anderen Süchtigen zusammentut, aber keine harmonischen und erfüllenden Beziehungen aufbaut, ist man besonderes suchtanfällig. Das sind Menschen, die allein, depressiv, ängstlich und traumatisiert sind. Das trifft aber nicht nur auf Menschen zu, sondern auch auf Tiere. Isolation ist niemals gut und stellt auch die Grundlage für eine Sucht dar.“
„Begriff ,Krankheit' bei Behandlung hinderlich“
Marc Lewis ist auch der Ansicht, dass die Bezeichnung „Krankheit“ für einen Süchtigen bei der Behandlung sogar hinderlich sein kann. „Wenn man Drogensüchtige als Patienten definiert, dann lässt sie das passiv, fatalistisch und pessimistisch werden. Wenn man erzählt bekommt, dass man an einer chronischen Hirnkrankheit leidet, die für diese ganze unschöne Scheiße verantwortlich ist, dann geht man auch nicht davon aus, diese Krankheit loszuwerden.“ Außerdem, so Lewis weiter, neige man dazu, andere Methoden zur Suchtbehandlung zu vergessen, die auf viel individueller zugeschnittenen Vorgehensweisen basieren.“
Politische Korrektheit?
Dass man eine Suchterkrankung als solche definiert, sei nur eine „Political Correctness“, behauptet Lewis: „Das ist eine bequeme Möglichkeit, Süchtigen zu verzeihen. Und Süchtige können sich so auch ganz leicht selbst verzeihen. Das ist eine Form der politischen Korrektheit.“
Christian Voggeneder, Leiter der Therapieeinrichtung „Zukunftsschmiede“ in Pressbaum bei Wien, kann über solche Thesen nur den Kopf schütteln. „Eine Willensentscheidung ist, wenn jemand auf Entzug geht, aber dann muss seine Seele repariert werden, denn die beginnt dann zu schmerzen“, spricht er aus seiner langjährigen Erfahrung mit suchtkranken Menschen. „Sicher ist eine Sucht eine Störung, aber das ist jede andere Krankheit auch“, so Voggeneder zu „Alk-Info“. Und: „Eine Suchterkrankung kann man durchaus als eine Art seelische Allergie umschreiben, und eine Allergie ist eine Krankheit.“ Aber was ist eine Krankheit? „Eine Krankheit ist etwas, das aus dem Lot geraten ist und sich negativ immer wieder verstärkt.“, braucht der angesehene Suchttherapeut über die Definition nicht lange nachzudenken. Nachsatz: „Das ist ein Teufelskreis…“
Fotos: geneheyman.com (1), memoirsofanaddictedbrain.com / Marc Lewis (1), zi-mannheim.de (1)