Schweizer Studie widmet sich einem oft diskutierten Thema
„Alkohol und Gewalt im Jugendalter“
von Werner Schneider
Jugendliche haben immer schon einmal Alkohol „probiert“. Manche lassen den Konsum ganz bleiben, manche trinken nur gelegentlich und einige entwickeln ein Trinkverhalten, das man als Rauschtrinken bezeichnen könnte. In der Studie werden diese „Risikokumulierende“ genannt. Die Schweizerische Fachstelle für Alkohol und andere Drogenprobleme „Sucht Info Schweiz“ hat nicht nur das Trinkverhalten und die Gewalt generell, sondern spezifisch nach Geschlecht, Trinkmustern und Opfer- und Täterrollen untersucht. Die Zahlen sind nicht jüngsten Datums, doch einer der Mitautoren, Gerhard Gmel, versicherte im Gespräch mit „Alk-Info“: „An den Aussagen hat sich gar nichts geändert. Und lassen Sie sich nicht einreden, alles sei schlimmer geworden – das ist Unsinn.“ (Alle in Anführungszeichen gesetzte Zitate wurden mit Genehmigung wörtlich der Studie entnommen.)
Zuerst stellt sich die Frage: Welche Form der Gewalt wird in Zusammenhang mit Alkoholgenuss ausgeübt? Die Analysen basieren auf der schweizerischen ESPAD-Studie (European School Survey Project on Alcohol and Drugs). Und „der ESPAD-Standardfragebogen erhebt fünf Gewaltverhaltensweisen (verbale Schikane [Hänseln], körperliche Schikane, Einzel- und Gruppenkämpfe und Sachbeschädigung).“
Erwartungsgemäß ist das Hänseln, also verbales Schikanieren (gern auch Mobbing genannt), die häufigste Form, „rund die Hälfte aller Jungen und Mädchen im Alter von 13-17 Jahren gab an, im Laufe der letzten 12 Monate mindestens einmal eine Person gehänselt zu haben (54,3% bzw. 44,6%).
Am anderen Ende der Skala steht die physische Gewalt und das Zerstören. Hier räumen die Studienautoren mit einem Vorurteil auf: „Bei Jugendlichen ist der durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Konsum ein schlechter Indikator für Gewalt … Es macht einen Unterschied, ob jemand täglich ein Glas trinkt oder sieben Gläser am Feierabend, trotz gleichem Durchschnittskonsum.“ Einfacher gesagt: Nicht der, den man regelmäßig trinken sieht gehört zur Risikogruppe der Gewalttätigen, sonder der, der sich – wenn auch nur gelegentlich – dem Rausch entgegen trinkt. Und so wundert es nicht, wenn die Autoren zu dem Schluss kommen: „Häufig trinkende Jugendliche, die zusätzlich in die Gruppe der Rauschtrinkenden fallen, sowie Jugendliche, die darüber hinaus auch noch große Mengen bei normalen Gelegenheiten trinken (Risikokumulierenden), also hoch risikoreich Trinkende, zeigen ein deutlich erhöhtes Maß an gewalttätigem Verhalten.“
Das gilt auch für Mädchen, wenngleich in geringerem Ausmaß. Hier sind ebenfalls die Rauschtrinkerinnen die gewalttätigeren. Wenn auch in viel geringerem Ausmaß, wie später noch zu zeigen ist.
Alkohol, Sex und Gewalt
In dem erwähnten Bereich sind die Prozentzahlen sehr hoch, sowohl was Täter als auch Opfer betrifft. „Die hoch risikoreich konsumierenden Jungen (etwa ein Viertel) machen zwischen 50 und 60% der körperlichen Gewaltakte (inklusive Gewalt gegen Sachen) aus und etwa 40-50% der erlittenen Gewalt.“ Doch nicht nur das Trinken und die damit verbundene Gewalt zeichnet diese Jugendliche aus, sie neigen auch zu anderen abweichenden Verhaltensmustern: „Im Vergleich zu abstinenten und risikoarmen Konsumierenden sind hoch risikoreich Konsumierende beider Geschlechter mehr als doppelt so häufig unzufrieden mit ihrer Beziehung zu den Eltern, sie schwänzen viermal so häufig die Schule, haben viermal so häufig potenziell risikoreiche Sexualkontakte und sind fünfmal so häufig Rauchende. Sie konsumieren sogar 15-mal so häufig aktuell Cannabis…“.
Wobei hier betont werden muss, dass diese Aussagen unabhängig vom sozialen Status gemacht werden. Es sind also die Risikogruppen nicht automatisch mit „bildungsferneren Schichten“ gleichzusetzen. Aber: „Viele Jugendliche mit einem Problemverhaltenssyndrom fallen bereits in frühester Kindheit durch Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität auf.“ Es hängt aber sehr wohl vom Verhalten der Eltern („Parental Monitoring“) ab, welche Grundhaltungen und Werte sie vermitteln.
Dafür stimmt das Geschlechterklischee. Wenn Mädchen und Burschen gleich viel trinken, dann wird das bei den Jungen eher toleriert. Und es stimmt auch die Vermutung, dass Mädchen nicht so schnell gewalttätig werden wie Burschen, aber wenn, dann ist häufiger Alkohol im Spiel. Umgesetzt könnte man sagen: Die Buben raufen auch ohne Rausch, die Mädels trinken sich die Aggression erst an.
Antisoziales Verhalten
Während also vermieden wird, soziologische Schichtungen vorzunehmen (Akademiker, Arbeiter usw.) wird darauf hingewiesen, dass Gewalt weitergegeben wird: „In Übereinstimmung mit Studien aus Deutschland und den USA konnte auch für die Schweiz (ziemlich sicher auch für Österreich, Anm. des Autors) nachgewiesen werden, dass Kinder, die von ihren Eltern gescholten, geohrfeigt oder geschlagen wurden, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihrerseits Mitschüler und Mitschülerinnen schikanieren und schlagen.“ Das führt bei den Jugendlichen dann zu „antisozialem Verhalten“, das durch Alkoholkonsum dann noch verstärkt wird.
Wer sind nun aber die Täter und wer die Opfer? Hier spielt das Verhältnis Gruppe zu Einzelgänger eine Rolle: „So konnte in der Studie von Kuntsche und Gmel gezeigt werden, dass sozial gut integrierte Jugendliche zu Rauschtrinken und Gewaltausübung neigen, während sozial schlecht integrierte Rauschtrinkende öfter Opfer von Gewalt sind.“
Interessant sind in der genannten Altersgruppe die Prozentsätze beim Trinkverhalten. Als abstinent gelten bei den Burschen 16,8% bei den Mädchen 16,7. „Risikoarm“ (Alkoholkonsum 10-mal im Jahr) liegt mit 34,2% (männlich) und 44,0% (weiblich) am höchsten. Bedenklich: Es gibt mehr männliche „Risikokumulierende“ als Abstinente („Alkoholkonsum mehr als 10-mal mit einer durchschnittlichen Quantität von mehr als zwei Trinkgelegenheiten und mindestens zweimal monatlich Rauschtrinken.“), nämlich 21,8%. Anders bei den Mädchen, da fallen nur 13,5% in diese Gruppe.
Bei Mädchen ist auch – einigermaßen überraschend – die Gewaltbereitschaft ziemlich über alle Trinktypen verteilt. Sind bei den Burschen 68,9% aller alkoholbezogenen körperlichen Schikanen bei der Gruppe Risikokumulierende anzutreffen, sind es bei den Mädchen „nur“ 28,2%.
Machtmonopol
Zusammenfassend kann man sagen (und das gilt über einen sehr langen Zeitraum hinweg, wenn man sich als älteres Semester an seine eigene Jugend erinnert), dass Gewalt bei Jugendlichen kein seltenes Phänomen ist. Die Studie präzisiert aber gewisse Erfahrungswerte wissenschaftlich und räumt mit manchen Vorurteilen auf. Volkstümlich sagt man, dass Mädchen den Burschen „voraus“ seien. Das trifft bei Alkohol und Gewalt zu: „[Es] sind bei Mädchen kognitive Fähigkeiten früher entwickelt, die wiederum mit einer eher ablehnenden Haltung gegenüber exzessivem Alkoholkonsum und Gewaltverhalten in Verbindung gebracht wird.“
Es trifft auch zu, dass man gegenüber betrunkenen Burschen Vorsicht walten lassen sollte: „Diese Personen haben aufgrund der ausgeübten Gewalt ein Machtmonopol. Es ist zu vermuten, dass Jugendliche, die es wagten, solches Machtmonopol durch Hänseln in Frage zu stellen, damit rechnen müssen, Opfer von körperlicher Gewalt zu werden oder Eigentum beschädigt zu bekommen.“ Dem ist hinzuzufügen, dass sich das bisweilen nicht nur auf junge Menschen untereinander sondern auch auf Jugend zu Erwachsenen bezieht.
Die landläufige Meinung, dass heftige Trinker einander zuerst einmal verbal gewaltvoll begegnen bestätigt die Studie nicht – eher wird früher untereinander zur physischen Gewalt gegriffen.
Täter sind oft auch Opfer
Aus dem ergibt sich ein weiterer Schluss in der Opfer-Täter-Rolle: „Es ist also nicht so, dass es Opfer auf der einen und Täter auf der anderen Seite gibt. Täter körperlicher Gewalt sind gleichzeitig häufig auch Opfer. So ist es nicht erstaunlich, dass viele Opfer ebenso stark trinken wie Täter.“ Und: „Nur die ausschließlichen Opfer konsumieren deutlich weniger und seltener Alkohol als Täter…“
Bei all dem Gesagten sei nochmals darauf hingewiesen: Hier handelt es sich um junge Menschen zwischen 13 und 17 Jahren!
Natürlich bietet die Studie auch Anregungen für Präventionsmaßnahmen. An vorderster Stelle steht: „Bildungsprogramme“. Erfolgreiche Schul- oder Lehrabschließer sind weniger gefährdet. Dem folgt „soziale Entwicklungsprogramme“. Stichwort: Anfänge meiden, in den Kindergärten und Grundschulen mit Programmen zur Gewaltvermeidung arbeiten. „Verhinderung von Mobbing.“
Schließlich: „Therapeutische Programme: Beratung von Gewaltopfern, Selbsthilfegruppen und Verhaltenstherapien, um spätere Gewaltausübung als Folge erlittener Gewalt einzudämmen.“
Beim letzten Punkt fehlt es in Österreich an der Bereitschaft, für therapeutische Maßnahmen genügend Geld in die Hand zu nehmen. Sonst dürften die Erkenntnisse ziemlich eins zu eins auch auf unsere Jugendlichen umzulegen sein.