Edith Piaf war bekennende Alkoholikerin
„Ich wusste, dass ich mich zerstörte!“
von Harald Frohnwieser
Ihr Leben war kurz, zu kurz. Höhen und Tiefen als Elixier des Erfolgs. Millionen Fans lagen dem nur 1,50 Meter großen Spatz von Paris zu Füßen, freuten sich mit ihr, wenn sie glücklich war, bangten um sie, wenn das Schicksal sie wieder einmal durch beutelte. Doch sie ließ sich nicht unterbringen. „Non, Je Ne Regrette Rien“ - ein Chanson als Lebensmotte: „Nein, ich bereue nichts“. Trotz Unmengen an Morphium und Alkohol. Von Letzterem kam sie schließlich los, doch für ihren zarten Körper war es wohl zu spät: Am 10. Oktober 1963 starb die kleine Sängerin mit der großen, unverkennbaren Stimme mit nur 47 Jahren an Leberzirrhose.
„Hinter dieser Stirn eines Bonapartes und unter dieser äußerlich so zerbrechlichen Hülle verbirgt sich ein Wunder. Eine gewaltige Stimme und eine emotionale Kraft, die weiter wirken, wenn sie nicht mehr unter den Lebenden weilt.“ Der bedeutende französische Dichter, Regisseur und Maler Jean Cocteau hatte ihren Nachruf noch zu Lebzeiten verfasst.
Ein Leben, dass in der Gosse begann. Als Edith Giovanna Gassion kam sie am 19. Dezember 1915 auf dem Bürgersteig vor dem Haus Nr. 72 in der Rue de Belleville in Paris zur Welt. Ihre Mutter, eine Nachtclubsängerin, machte sich schleunigst aus dem Staub und sollte sich erst Jahrzehnte später wieder bei ihr melden, als Edith als Piaf bereits ein Weltstar war und sie dringend Geld brauchte. Der Vater, ein Straßenakrobat war Soldat im Ersten Weltkrieg und konnte sich ebenso nicht um das Baby kümmern. Er brachte sie zu seiner Mutter, die in Paris ein Bordell betrieb. Von ihrer Großmutter bekam die kleine Edith kaum Zuneigung, dafür, wie sie später erzählte, Alkohol. „Als ich klein war, gab mir meine Großmutter jeden Morgen die Flasche mit Rotwein und etwas Wasser“, diktierte sie ihre Erinnerungen kurz bevor sie starb (Edith Piaf: Mein Leben, Rowohlt Taschenbuchverlag). War das der Grundstein für ihre spätere Alkohol-Erkrankung?
Rotwein als Kraftspender
Der Wein sollte ihr, so ihre Oma, Kraft geben, doch er machte die Siebenjährige krank. Und blind. Zwei Prostituierte konnten den Zustand des Mädchens nicht mehr länger ertragen und pilgerten mit ihr nach Lourdes, wo sie vor einer Heiligenstatue beteten. Was dann geschah, ließ Edith Piaf ein Leben lang an Wunder und an die Kraft des Jenseits glauben – sie konnte wieder sehen. Ein Pfarrer, der davon erfuhr, dass das Mädchen in einem Bordell lebte, las dem Vater die Leviten. Der verdiente mittlerweile als Schlangenmensch auf den Jahrmärkten von Paris und Umgebung sein bisschen Geld, ließ sich vom Pfarrer breitschlagen und nahm seine Tochter, die schon in Omas Bordell die Nutten und deren Freier mit Liedern unterhielt, mit. Bald merkte er, dass das Geschäft besser ging, wenn Edith sang. Sie konnte bei ihm bleiben, doch Liebe oder Aufmerksamkeit bekam sie nie. Der einzige väterliche Liebesbeweis war eine Puppe, die er ihr schenkte.
Mit 15 hatte Edith das Leben an seiner Seite satt und trieb sich mit einem anderen Mädchen auf den Straßen von Paris herum. Edith sang, die Freundin kassierte ab. Bald darauf, mit 17, wird Edith von einem Burschen schwanger, doch die kleine Marcelle wurde nur wenige Monate alt. Edith Piaf in ihren Memoiren: „Wirklich getrunken habe ich zum ersten Mal, als ich von dem Friedhof kam, auf dem man gerade mein kleines Mädchen in das schwarze Loch gesenkt hatte. Ich ging in eine Kneipe und trank atemlos, in einem Zug, vier unverdünnte Pastis (Anisschnaps, Anm.) aus einem Glas.“
„Ich habe getrunken, um zu vergessen“
Es war wenig später der Nachtclubbesitzer Louis Leplèe, den sie mit ihrem Gesang auf der Straße berührte und der sie spontan für seinen Club engagierte. Zunächst als „Mädchen aus der Gosse“ vom wohlbetuchten Publikum bestaunt, wurde sie aufgrund ihrer großartigen Stimme bald zum Star des Clubs. Leplèe war nicht nur ihr Förderer, er gab ihr auch den Namen „La mome Piaf“, der kleine Spatz. Doch wieder schlug das Schicksal zu: Edith Piafs Gönner wurde ermordet, die kleine Sängerin sollte kurz sogar zu den Verdächtigen gehören. „Jetzt habe ich niemanden mehr“, zeigte sich Edith schockiert. Doch ein neuer Lehrmeister trat in ihr Leben: Der Dichter Raymond Asso schrieb nicht nur Chansons für sie, er brachte ihr bei, nicht mehr so zu grölen wie bisher, sondern ordentlich zu singen. Mit Erfolg, Ediths Aufstieg ließ sich ebenso wenig aufhalten wie ein Plattenvertrag mit einem großen Label. Tourneen durch Frankreich, Europa und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar durch die USA begründeten ihren Weltruhm.
Liebhaber kamen und gingen, das Leben mit der kleinen, quirligen Sängerin, die es gewohnt war, die Nacht zum Tag zu machen, war nicht immer leicht. Und Alkohol war stets dabei. „Ich habe getrunken, um zu vergessen …zu vergessen, dass dieser oder jener Mann mich quälte. Ich wusste, dass ich mich zerstörte, aber ich konnte einfach nicht anders“, bekannte sie in ihren Erinnerungen. Und weiter: „Hatte ich denn nicht immer etwas zu vergessen? Ob ich arm war oder reich? …Auch wenn man reich ist, leidet man und möchte aufhören zu leiden.“
Kein Arzt oder Priester konnte helfen
Das größte Leid erfuhr die Sängerin freilich, als im Oktober 1949 ihre große Liebe, der 1916 in Algerien geborene Boxweltmeister Marcel Cerdan, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Die Piaf konnte viel einstecken, aber diesen Schicksalsschlag verdaute sie lange nicht. Ihre Freundin, mit der sie sich einst auf der Straße herumtrieb, erzählte später: „Sie weinte ununterbrochen, stopfte sich mit Tabletten voll und konnte nichts mehr essen. Da half kein Doktor und kein Priester.“ Die Freundin war es auch, der die Idee zu einer spirituellen Sitzung hatte. Doch Cerdans Geist wollte nicht erscheinen, also half die Freundin nach. „In dem ich mit dem Fuß den Tisch ein wenig hochhob, befahl ich Edith, dass sie wieder essen muss.“
Langsam kam Edith Piaf wieder zu Kräften, trat erneut in den USA auf. Vor der Carnegie Hall in New York versammelten sich Mitte der 1950er Jahre mehr als 10.000 Menschen, um ihre Lieder, die Edith zum Teil auch auf Englisch sang, zu hören. Chansons, die unvergessen sind: „La Vie En Rose“, „L'Accordenoiste“, „Mon Manege A Moi“ oder das unvergessliche „Millord“ - geschrieben von ihrem kurzzeitigen Liebhaber Georges Moustaki. Mit ihm war die Piaf im September 1959 mit dem Auto unterwegs, als Moustaki die Herrschaft über den Wagen verlor und in einen LKW krachte. Die Folgen für die Piaf waren fatal: Monatelanger Krankenhausaufenthalt, mehrere Operationen, und viel Morphium gegen die Schmerzen. Von dem sie bis zu ihrem Tod abhängig bleiben sollte.
Die Höllenqualen des Entzugs
Ihre Alkoholsucht hat sie nach eigenen Angaben drei Jahre vor dem Unfall besiegt. „Es war 1956, da erschien mir meine kleine tote Tochter im Schlaf. Sie weinte. Erschreckt wachte ich auf. Ich sagte mir, dass sie über mich, ihre Mutter, weine.“ Noch am gleichen Abend brachte sie ein Freund in eine Entziehungsanstalt. Edith Piaf: “Der erste Tag der Entziehungskur verlief in völliger Euphorie. Alle halbe Stunde brachte man mir zu trinken; ein Glas Weißwein, dann ein Bier, Rotwein, Pastis, Whisky. Diese Behandlung fand ich nicht sehr schmerzhaft.“ Aber: Nach und nach entzog man ihr den Alkohol. „Ich brüllte ununterbrochen 48 Stunden lang. Ich wälzte mich im Bett und schlug im Delirium um mich. Um mein Bett sah ich eine unzählige Menge hämisch grinsender Zwerge in weißen Kitteln mit ungeheuren Köpfen und ein Chirurg, die mich beschimpften. Umsonst schloss ich die Augen, sie waren immer noch zu sehen.“
Das Martyrium dauerte zwei Tage, die Schwester hielten den zerrütteten Weltstar im Bett fest und wischten ihr Schweiß und Tränen vom Gesicht. Die Piaf weiter: „Nach zwei Tagen verschwanden die Zwerge und der Chirurg. Der Doktor kam und sagte zu mir: ,Sie sind geheilt'. Ich war es wirklich. Seit diesem Tag habe ich kein einziges Glas Alkohol mehr angerührt.“
Anfang der 1960er Jahre ging es Edith Piaf wieder ein bisschen besser, doch ihr Körper konnte den jahrelangen Alkohol- und Drogenmissbrauch nicht verleugnen. In dem um 21 Jahre jüngeren Sänger Theo Sarapo fand sie ihren zweiten Ehemann, von ihrem ersten, dem Sänger Jacques Pills, war sie längst geschieden. Mit Sarapo gemeinsam nahm sie das Lied „A Quuoi Ca Sert L'Amour“ auf und kurz vor ihrem Tod sang sie vom beleuchteten Eiffelturm herunter ihr Lebensbekenntnis: „Non, Je Ne Regrette Rien“. Am 10. Oktober 1963 gab ihr Körper auf. Ein Körper, der viel mitgemacht, viel gelitten hat, aufgrund der Schmerzen, des Morphiums und des Alkohols. Vielleicht diktierte die Piaf deshalb auf dem Krankenbett den Satz: „Ich mache mich niemals über die menschlichen Wracks lustig, zu denen Alkoholiker werden. Ich kenne ihre Hölle.“
Wenigstens dieser Hölle konnte sie noch zu Lebzeiten entkommen.
Foto: commons.wikimedia.org / Nationaal Archief (1)