Vollständige Wandlung, wenn der Alkohol nicht mehr das Leben diktiert
„Mein Mann hat ja meine Sauferei auch ertragen!“

von Werner Schneider

Das Meeting der Anonymen Alkoholiker an diesem Mittwochvormittag begann mit einer Gedenkminute. Man gedachte keines Mitgliedes sondern des Ehegatten einer treuen, langjährigen Teilnehmerin und aktiven Helferin. Der Mann von Helga* war an Lungenkrebs gestorben, genauer gesagt an den vielen Metastasen. Wie heißt es dann oft tröstend: Er war erlöst worden von einem langen Martyrium, das Helga mit ungeheurer Kraft und Ausdauer und Hingabe mittrug.

Helga ist nicht mehr jung, sie ist selbst nicht gesund und ist doch so etwas wie die immer rührige gute Seele dieser Meeting-Gruppe. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, es steht dampfender Kaffee bereit und die Eigenheiten der einzelnen Mitglieder (wer hat wo seinen Lieblingsplatz, wer will welches Häferl usw.) wurden berücksichtigt. Und Helga opferte auch zahllose Abendstunden und leistete Telefondienst.
Jeder wusste vom Schicksal ihres Mannes. Einige kannten ihn persönlich, andere hörten oft aus ihren Wortmeldungen von seinem Zustand und damit von der psychischen Beschaffenheit Helgas. Ihre physische sah man deutlich – heftig zitterten ihre Hände, sodass sie kaum die Kaffeetasse halten konnte. Man teilte ihre Freude, wenn die Chemotherapie so etwas wie eine Normalität gebracht hatte und beide sich einen Urlaub gönnten – den sie wegen des fortschreitenden schlechten Gesamtzustandes des Patienten dann wieder abbrechen mussten. Unübersehbar ihre Sorge, wenn der Patient unter Schmerzen und seiner Hilflosigkeit litt.
Dass sie an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen war, war jeder/jedem klar. Und doch kam sie, wann immer es ging, zu den Meetings. Dass ihr Handy dabei eingeschaltet bleiben durfte, verstand sich von selbst.
Oft wurde ihr die Frage gestellt: „Helga, wie hältst du das nur aus?“
Ihre einfache wie schlüssige Antwort lautete immer: „Er hat meine Sauferei auch jahrelang ausgehalten.“
Alkoholiker sind erfinderisch
Eine Alkoholikerin als wertvoller Mensch, als empathisch und liebevoll handelnde Person? So kennt den trinkenden Teil der Bevölkerung in der Öffentlichkeit nicht.
Alkoholiker fallen in der Gesellschaft auf, wenn sie sich selbst schon außerhalb derselben gestellt haben. Da sind die sichtbaren Säufer auf der Straße, heruntergekommen, torkelnd, lallend und ungustiös. Man möchte nicht einmal anstreifen.
Alkoholiker fallen auch auf, wenn sie im Arbeitsprozess wegen ihrer Krankheit immer öfter versagen, wenn sie ihr Pensum nicht mehr leisten können und so die Kollegenschaft zu Mehrarbeit verurteilen.
Man kennt die Lokale, in denen alle die schon früh am Morgen auftauchen, die den Tremor mit ein paar Glas Wein, Bier oder besser gleich Wodka bekämpfen.
Und Familienmitglieder wissen, wo Mama oder Papa oder Oma oder Opa überall ihre Flaschen versteckt haben und heftig bestreiten zu viel zu trinken – „eh nur ein Glaserl“. Der Nachschub wird aus der Garage, dem Dachboden oder aus dem Keller geholt. Dort stecken die Flaschen in alten Gummistiefeln oder hinter den Büchern im Bücherschrank oder sonst noch wo, Alkoholiker sind erfinderisch. Manchmal wissen sie dann selbst nicht mehr, wo noch Stoff versteckt ist.
So kennt man sie.
Raus aus dem Teufelskreis
Wenn jemand aus dem Teufelskreis des Saufens heraus ist, dann gilt sie/er als normal und angepasst. Wer Helga für ihren todkranken Mann sorgen sah, musste zu ihr aufblicken.
Wie, wenn man den Schwestern im Spital gesagt hätte: „Das ist eine Alkoholikerin?“ Einstmals behaftet mit all den oben geschilderten Negativerscheinungen, oder zumindest mit einigen von diesen. Hätte das die Hochachtung gesteigert oder hätte man Helgas starkes Zittern (Parkinson) als Spätfolge des Alkoholkonsums gedeutet?
Das ist bisweilen das psychische Problem der Alkoholiker nach dem Trockenwerden, dass man dieses „Anders-sein“ nicht erkennt, dass man dafür kein Lob bekommt. Außer vielleicht von den eigenen Familienmitgliedern, die sich nun von eine schweren Last befreit fühlen. Zugleich aber mit Argusaugen beobachten, ob wieder ein Trinker-Symptom zu sehen ist. Wer zu den Anonymen Alkoholiker oder zum Blauen Kreuz geht, die/der kann frei über die Vergangenheit reden und jedem wird offenbar, dass hier ein Mensch neu geboren wurde.
Draußen ist das anders.
Lob ist selten
Wer sich bei bester Arbeitsleistung offen zu seiner Krankheit bekennt, steht unter Beobachtung (siehe auch „Wann vergeht Vergangenheit?“): Wann kommt der nächste Fehler, wann kommt der nächste Rückfall?
Lob dafür, dass mit dem Nicht-mehr-trinken ein neuer, positiver Lebensabschnitt begonnen hat, ist selten, wenn überhaupt.
Als „nasse“ Alkoholikerin hätte Helga ihre fast übermenschliche Leistung nicht erbringen können. Ihr Mann wäre ohne Beistand geblieben, der Drang Trinkbares zu besorgen wäre stärker gewesen als Pflichtbewusstsein oder Liebe. Psychisch wäre der Todkranke genau daran ebenso zugrunde gegangen wie physisch. Wahrscheinlich hätte er viel früher in eine Pflegestation müssen, besucht von einer Frau mit Fahne. So aber hat er friedlich Abschied nehmen können.
Darum war die Gedenkminute auch ein Stück Hochachtung für Helga. Im Meeting wussten alle, dass die Trockenheit bei diesem an einer tödlichen Krankheit leidenden Menschen (Alkoholismus ist eine tödliche Krankheit, das sei betont) die vollständige Wandlung gebracht hatte. „Draußen“ ist Helga eine aufopfernde Ehefrau, wie sich’s gehört eben.

* Name von der Redaktion geändert