Alkoholismus und Prävention in der Schweiz
Hier gehen die Uhren anders
von Harald Frohnwieser
Tippt man die Begriffe „Alkoholismus“ und „Schweiz“ zusammen in eine Internetsuchmaschine ein, kann man schnell aus dem Vollen schöpfen – neben den vielen Therapiezentren (jeder Kanton in der Schweiz hat mehr Therapieeinrichtungen für Alkoholkranke als ganz Österreich zusammen, siehe auch unter „Anlaufstellen“), die sich hier vorstellen, gibt es daneben noch sehr viele gut gestaltete Sites diverser Gesundheitsportale, die über die Alkoholsucht aufklären. In Österreich hingegen schaut es hier leider recht mager aus – von „Alk-Info“ - die erste Website für Alkoholkranke und deren Umfeld einmal abgesehen. Es scheint so, dass die Uhren in der Schweiz wirklich anders gehen.
In den 1990er Jahre sorgten Medienberichte über die Züricher Drogenszene für großes Aufsehen. Krawalle und Auseinandersetzungen mit der Polizei standen damals an der Tagesordnung. Mittlerweile hat man das Problem längst wieder in den Griff bekommen, Drogenabhängige sieht man in der Schweizer Hauptstadt kaum. Oder kann sie zumindest nicht an ihrem Äußeren als solche erkennen. Genauso verhält es sich mit den Alkoholikern. Natürlich gibt es auch die bei den Eidgenossen - nach Schätzungen sind es etwas mehr als 300.000, die bereits an Alkoholismus erkrankt oder abhängigkeitsgefährdet sind. Dabei hat die Schweiz nur etwa eine Millionen weniger Einwohner als Österreich.
Ein Stück Würde geben
Warum ist die Schweiz so anders. Dr. Herbert Leherr, Vorstandsmitglied vom „Forum Suchtmedizin Ostschweiz“ und ärztlicher Leiter der Alkoholikerstation in der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen am Bodensee (siehe auch „Den Patienten Mut aufs Leben machen ist sehr wichtig“), erklärt, warum dies so ist: „Das hat eine lange Tradition, dass wir gewisse Dinge einfach anders machen. Es gibt bei uns einen pragmatischen Umgang mit dem Thema Sucht. Die Schweiz war eines der ersten Länder, die gesagt haben, es wäre ganz toll, wenn es keine Sucht gebe. Aber das spielt es leider nicht.“ Und weiter: Wir wollen den Leuten aber ein Stück Würde geben, dazu brauchen sie aber die Möglichkeit, sich zu waschen, sich sauber anzuziehen, saubere Spritzen für die Drogenabhängigen. In anderen Ländern herrscht immer noch die Meinung vor, dass jemand ganz unten sein muss, damit er etwas ändert, bei uns aber nicht.“
Deshalb bekommen Süchtige sehr schnell eine Pension zuerkannt. Was Leherr nicht ganz unkritisch sieht: „Das ist meines Erachtens eine zweischneidige Geschichte, weil es ja einerseits gut ist, wenn die Menschen versorgt sind, andererseits wird es ihnen zu leicht gemacht, aus dem Arbeitsprozess auszusteigen. Da haben dann 30-Jährige eine Rente, mit der sie zwar einigermaßen leben können, aber ein Zurückkehren in den Arbeitsmarkt ist dann sehr schwer.“ Das war, so Leherr, vor 30 oder 40 Jahren noch anders: „Damals gab es mehr Familienunternehmen, wo man gesagt hat, okay, der hat jetzt viel gesoffen, der geht zur Behandlung und kommt dann wieder zurück und ich hab' ab und zu eine Auge auf ihn – das gibt es jetzt kaum mehr.“
Wer Hilfe sucht bekommt sie auch
Freilich, auch in der Schweiz sind Drogeneinrichtungen geschlossen worden. Aber: „Wenn jemand deutlich macht, dass er Hilfe braucht, dann bekommt er sie auch“, so Herbert Leherr. Dafür sorgen in erster Linie die Gemeinden, die eine Wohnung und soziale Unterstützung bereit stellen. Diese Grundversorgung sorgt für ein menschenwürdiges Dasein. Herbert Leherr: „Man muss sich bei uns schon sehr anstrengen, um kein Dach über den Kopf zu haben.“ Aber nicht nur Suchtkranke, auch psychisch Kranke sind in der Schweiz besser versorgt – finanziell und medikamentös.
Das geschieht freilich auch zu einem gewissen Selbstzweck. „Es wird schon auch kaschiert“, ist sich Herbert Leherr sicher, „man will nicht, dass die Obdachlosen in den Städten auffallen, aber mit dem System, das wir haben, ist beiden Geholfen – der Gesellschaft, die keine zerlumpten Gestalten sieht, und den Süchtigen selbst, die ordentlich gekleidet sind und einen Platz zum Wohnen haben.“ Notschlafstellen, so Herbert Leherr, würden wenige gebraucht. Doch wer hier landet, muss morgens raus und darf erst am Abend wieder rein: „Da geht es dann ums reine Überleben.“ Doch es sind nicht allzu viele, die hier gestrandet sind.
Prävention in Kindergärten und Schulen
Damit das Suchtproblem nicht größer wird, sorgt eine Reihe von Präventionsmaßnahmen, die regelmäßig stattfinden. Das beginnt im Kindergarten, wo es ums Thema Sucht noch nicht geht, den Kindern aber das Selbstvertrauen gestärkt wird und sie Neinsagen lernen bis hin zu Schulen, die die Mitarbeiter der Suchtfachstellen regelmäßig aufsuchen und dort über die Auswirkungen von häufigem Alkoholkonsum aufklären. Diese Suchtfachstellen sind finanziell gut aufgestellt – in der Schweiz gibt es das sogenannte Alkoholikerzehntel – das ist ein bestimmter Prozentsatz von dem, was über die Alkoholsteuer eingenommen wird und Projekten auf dem Gebiet der Alkoholprävention zugute kommt. Und darüber hinaus gibt es ein zusätzliches Budget für einzelne Projekte.
Die Prävention scheint zu greifen. Während das Einstiegsalter beim Alkohol in Österreich und Deutschland bei elf Jahren liegt, sind es in der Schweiz im Durchschnitt die 13-Jährigen, die erstmals zur Wodka-Flasche greifen. Und noch ein Phänomen gibt es bei den Eidgenossen – das Alter der Komasäufer! Suchtspezialist Leherr: „Wenn es bei uns Komasäufer gibt, dann sind das die 30- bis 40-jährigen Männer. Natürlich gibt es auch mal einen Zehnjährigen, der mit einer Alkoholvergiftung im Spital landet, aber das sind absolute Ausnahmen.“ Nachsatz: „Bei uns kommt jeder Trend an, aber meist in abgeschwächter Form, was mitunter seine Vorteile hat.“ Deshalb klingt es nicht aufgesetzt und auch nicht übertrieben patriotisch, wenn der Suchtspezialist sagt: „Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich in Österreich, in Deutschland oder in der Schweiz arbeiten müsste – ich würde mich jederzeit für die Schweiz entscheiden.“
Der Mediziner verweist auf noch einen Vorteil, den er genießt, wenn er in der Hauptstadt zu tun hat: „Die Kinder in Zürich grüßen die Erwachsenen. Nicht weil sie einen so nett finden, sondern weil sie dazu erzogen wurden. In so manchen anderen Städten wie in Frankfurt oder in Berlin muss man hingegen froh sein, wenn sie nicht über einen herfallen.“
In der Schweiz gehen die Uhren wirklich etwas anders. Beruhigend irgendwie.
Foto: Thomas Frohnwieser (1) Grafik: Thomas Frohnwieser (1)