Kranke Kinder, tödliche Autounfälle, Gewalt:
Auch Nichttrinker leiden unter zu viel Alkohol
von Harald Frohnwieser
Wer zu viel Alkohol trinkt, schadet in erster Linie nur sich selbst und niemanden sonst. Dieses Argument ist leider sehr verbreitet. Doch eine neue Studie aus Deutschland belegt klar, dass dem nicht so ist. Denn übermäßiger Alkoholkonsum schädigt auch die Mitmenschen. Sei es, wenn werdende Mütter während ihrer Schwangerschaft trinken und so ihr Kind gefährden, sei es, wenn betrunkene Autofahrer jemanden ins Krankenhaus oder gar auf den Friedhof befördern oder sei es, wenn unter Alkoholeinfluss Gewalt im Spiel ist. Dies wird, so die Studienautoren, bisher leider stark unterschätzt.
Dass Raucher auch ihre Mitmenschen gefährden, ist schon lange kein Thema mehr, und das ist gut so. Denn auch Passivraucher können Atemwegserkrankungen bekommen, wenn ein Mensch in ihrer unmittelbaren Umgebung ständig qualmt. Doch wie ist es bei sogenannten „Passivtrinker“? Gibt es die überhaupt? Wissenschaftler um Prof. Dr. Ludwig Kraus wollten das genau wissen und haben sich für eine umfangreiche Untersuchung die Zahlen aus dem Jahr 2014 genau angesehen. Die Forscher des Münchner Instituts für Therapieforschung (IFT) schätzten auf Grundlage von Internationalen Übersichtsstudien, dass im Jahr 2014 in Deutschland Kinder von Müttern, die während ihrer Schwangerschaft Alkohol tranken, 12.650 zur Welt kamen, die an FASD (Fetale Alkohospektrumstörung) litten, darunter waren an die 3.000 Babys mit der vollen Ausprägung der Störung (FAS). „Für Deutschland wurden die Zahlen bisher unterschätzt“, zieht Studienleiter Ludwig Kraus Bilanz. Wobei, so Kraus, FASD und FAS nicht die einzigen möglichen Folgen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sind: „Die Zahl der Betroffenen ist schwer zu erfassen, da Entwicklungsschädigungen oft erst viel später festgestellt werden.“ Diese Krankheiten lassen sich oft schwer diagnostizieren. Kraus: „Es gibt viele FAS- oder FASD-Fälle, die nicht erkannt sind, denn viele Kinder haben Störungen, die aber nicht als solche erkannt werden.“ Auch kommen Tot-, Fehl- und Frühgeburten wegen Alkohol in der Schwangerschaft immer wieder vor.
Viele Schäden bei Kindern durch Alkohol in der Schwangerschaft
Stellt sich die Frage, wie sich FAS und FASD auswirken. Kinder, die mit dieser Krankheit geboren werden, leiden häufig unter Minderwuchs, Fehlbildungen an den Geschlechtsorganen, Hörstörungen, Schluckstörugen, Schlitz- oder Schielaugen. Sehr häufig kommt es auch zu mehr oder weniger starken Herzproblemen. Dazu muss man wissen, dass Alkohol, den die Mutter während der Schwangerschaft trinkt, das Absterben von Nervenzellen bewirkt und das Kind deshalb mit einem kleineren Gehirn als üblich zur Welt kommt. Zudem gelangen oft Nervenzellen nicht in jene Bereiche, in denen sie eigentlich hin sollten. Das hat zur Folge, dass im Kopf dieses Kindes ein Chaos herrscht, was Probleme beim Merken und Verarbeiten von Informationen, dem Erfassen und dem Denken verursacht. Die Wahrnehmung des Kindes ist somit schwer gestört, auch eine hohe Schmerzgrenze kann erreicht werden. Das heißt, dass das Kind gar nicht bemerkt, wenn es sich verletzt. Ein Schmerz muss oft richtig groß sein, damit das Kind ihn wahrnehmen kann. Siehe auch „Das Schützenfest ist ins Gesicht geschrieben…“.
Gewalttäter sind häufig betrunken
Apropos Schmerz. Eine weitere Form von Schädigungen von Nichttrinkern sind die vielen Gewalttaten, die unter Alkoholeinfluss begangen werden. So waren im Jahr 2014 von 368 Tötungen in 55 Fällen die Täter alkoholisiert. Aber auch bei Gewalttaten, die nicht mit einem Todesfall enden, ist die Zahl besorgniserregend: In der Kriminalitätsstatistik von 2014 wurden in der Bundesrepublik 250.000 Fälle gemeldet, bei denen Alkohol im Spiel war. Wenn aggressive Männer betrunken sind, dann kommt Gewalt gegen Frauen sehr häufig vor, doch wird über solche Fälle viel zu wenig berichtet, so Kraus. Der Grund dafür liege wohl darin, dass es Gewalt gegen Frauen sehr häufig in den eigenen vier Wänden gibt, und darüber wird eben selten informiert. Die Europäische Union für Grundrechte veröffentlichte – ebenfalls im Jahr 2014 - eine Umfrage zum Thema Gewalt gegen Frauen, die besagt, dass jede zehnte Frau ab ihrem 15. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebte, 22 Prozent erlebten körperliche Gewalt und 43 Prozent litten unter psychischen Gewalteinwirkungen. Wie oft in diesen Fällen die Täter betrunken waren, geht aus dieser Umfrage zwar nicht hervor, aber es kann angenommen werden, dass sehr oft dabei Alkohol eine Rolle spielte. Siehe auch „Aggressive Impulse auf dem Weg nach außen“.
Alkohol im Straßenverkehr
Nichttrinker werden auch oft durch betrunkene Autofahrer gefährdet. So kamen 2014 in Deutschland 2675 Menschen im Straßenverkehr unverschuldet ums Leben, 1214 davon waren Opfer von Alkoholfahrten, sehr oft als Beifahrer oder als Fußgänger, was immerhin fast 50 Prozent ausmacht. Für Ludwig Kraus ist es deshalb wichtig, dass hier von Seiten der Justiz energisch eingegriffen werden sollte: „Für alkoholisierte Autofahrer muss es empfindliche Strafen geben und Verkehrskontrollen müssen verstärkt werden.“ So haben systematische Überprüfungen im Straßenverkehr gezeigt, dass erzwungene Maßnahmen wie etwa Atemwegskontrollen, die von Polizisten durchgeführt werden, ihre Wirkung nicht verfehlen und Alkohol im Straßenverkehr vermindern können. Auch zielgerichtete Schulungen von Bar-Service-Mitarbeitern kann helfen, dass sich Autolenker nach dem Besuch eines Lokals nicht mit mehr Promille als erlaubt hinters Steuer setzen.
Schäden sind höher als bisher angenommen
Resümee von Ludwig Kraus und seinem Team ist, dass die vorliegenden Erkenntnisse über angerichtete Schäden von schwangeren Müttern, die Alkohol trinken, betrunkenen Gewalttätern und Autofahrer, die angetrunken ihr Fahrzeug lenken höher sind als bisher angenommen. Was in der Studie nicht berücksichtigt wurde, aber ebenfalls häufig vorkommt, sind die psychischen Schäden, die Angehörigen von Alkoholkranken oft über viele Jahre erleiden. All diese Schäden zeigen auf, dass das Argument, Alkohol trinkende Menschen schädigen nur sich selbst, einfach nicht gilt.
Mehr Prävention gefordert
Die verheerenden Auswirkungen von Alkohol auf Dritte müsse, so die Autoren, genauso anerkannt werden wie die Tatsache, dass Trinker sich selbst gefährden. Doch sind, sagen sie, Maßnahmen für eine Alkoholreduzierung wie etwa höhere Preise auf Bier, Wein oder Spirituosen, bisher unpopulär und werden daher auch nicht umgesetzt. Und noch etwas müsste geschehen, damit unter Alkoholeinfluss entstandene Schäden, sei es beim Trinker selbst oder bei einem Nichttrinker, minimiert werden: mehr Maßnahmen gegen überhöhtes Trinken. „Obwohl der Alkoholkonsum in Deutschland derzeit eher abnimmt und daher keine Steigerung der Schäden zu erwarten sind, muss es viel mehr Prävention als bisher geben“, fordert Ludwig Kraus von den verantwortlichen Politikern.