Experten über Kontrolliertes Trinken:
„Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich“

von Harald Frohnwieser

In einer Gesellschaft, in der der Alkohol einen fixen Bestand sowohl im kulturellen als auch im religiösen Leben hat, ganz auf ihn zu verzichten, ist ohne Zweifel kein einfacher Weg. Trotzdem wurde in der Alkoholtherapie seit Jahrzehnten darauf gesetzt, Alkoholkranke auf ein abstinentes Leben vorzubereiten. „Sie dürfen nie wieder trinken“, machten Ärzte und Therapeuten dem Betroffenen unmissverständlich klar – was viele Trinker in ein tiefes Loch fallen ließ. Seit einiger Zeit will man in der Alkoholtherapie neue Wege beschreiten und propagiert das Kontrollierte Trinken. Aber: Funktioniert das wirklich? Kann jemand, der es gewohnt ist, täglich zu Bier, Wein, Wodka oder Schnaps zu greifen, seinen Konsum tatsächlich reduzieren? Während manche Experten glauben, hier den Stein der Weisen gefunden zu haben, warnen andere vor zu viel Euphorie und betrachten die Sache sehr nüchtern.

Kontrolliertes Trinken nach Termin-KalenderSchon im Jahr 1968 wurde der Begriff „Kontrolliertes Trinken“ in den USA von zwei Studienautoren, Reinert und Bowen, geprägt. Demnach muss derjenige, der kontrolliert trinkt „sorgfältig und sogar zwanghaft die Zeit, den Ort und die Umstände seines Trinkens vorbestimmen, und er muss rigide die Trinkmenge begrenzen.“ Männer sollten demnach nicht mehr als einen halben Liter Bier oder einen viertel Liter Wein trinken, Frauen etwas weniger. Zudem sollten fixe Zeiten (z. B. nicht vor 18 Uhr), der Ort (sollte nicht jener sein, an dem man bisher viel getrunken hat), das soziale Umfeld (nicht alleine, nicht mit „Vieltrinkern“) ausgemacht werden. Hinzu kommen eigenes Befinden (keinen Ärger „wegspülen“), die Auswahl der Getränke (vor jeden alkoholischen Getränk ein nicht alkoholisches als Durstlöscher) und die Trinkgeschwindigkeit (nicht zu schnell und nur in kleinen Schlucken). Dazu der Leiter der größten Suchtklinik Mitteleuropas, Prof. Michael Musalek vom Anton-Proksch-Institut in Wien in einem Zeitungsinterview: „Früher ging es ausschließlich darum, die Abstinenz zu erreichen und mit aller Gewalt zu erhalten. Heute verfolgen wir primär das Ziel, dass unsere Patienten wieder ein freudvolles und sinnerfülltes Leben führen können, Abstinenz wird hier zum Teilziel.“
Auch in Deutschland wird schon seit Längerem der maßvolle Umgang mit dem Alkohol propagiert. So bietet der diplomierte Psychologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. Joachim Körkel im Internet ein Zehn-Schritte-Programm an, um von einer überhöhten und gefährlichen regelmäßigen Trinkmenge runterzukommen. „Es geht nicht darum, einen Gegenentwurf zur Abstinenz zu schaffen. Es geht darum, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen und sie auf ihrem Weg der Veränderung zu begleiten“, stellt Körkel fest. Und weiter: „Es liegen mittlerweile viele wissenschaftliche Erkenntnisse zum kontrollierten Trinken vor, und seit Jahrzehnten gibt es englischsprachige Programme zum Erlernen eines selbst kontrollierten Umgangs mit Alkohol.“
Funktioniert nur bei einigen wenigen
Univ-Prof. Dr. Johannes LindenmeyerDoch gerade bei der Wissenschaft scheiden sich in diesem Fall die Geister. Denn nicht jeder Fachmann auf dem Gebiet der Alkoholtherapie stimmt in das Erfolgsgeheul ein, wenn es darum geht, Alkoholkranke zu einem freudvollen Umgang mit dem Alkohol zu bekehren. Der Direktor der Salus-Klinik im deutschen Lindow, Univ-Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer, brachte es 2012 in einem Vortrag bei einem Kongress in Bremen auf den Punkt: „Kontrolliertes Trinken ist möglich, aber nicht wahrscheinlich.“ Und weiter: „Es funktioniert bei manchen Betroffenen, allerdings bei sehr viel weniger als die Abstinenz.“ Einige Sätze später kommt der Psychologe, der in Deutschland einen großen Ruf als Spezialist in Sachen Alkohol-Therapie genießt, zu dem Schluss: „Das Kontrollierte Trinken scheint aufgrund der geringeren Stigmatisierung und des vermiedenen Außenseitertums zunächst einen Vorteil im Vergleich zum Abstinenzparadigma zu bieten. In einer gestörten Trinkkultur ist gerade dies aber von zweifelhaftem Nutzen für den Betroffenen: Immer wieder wird er sich mit einem gesellschaftlichen unauffälligen Missbrauch von Alkohol konfrontiert sehen, dem er sich dann abweichend von der Norm ihrer Bezugsgruppe entgegenstellen muss.“ Abschließen ist Lindenmeyer der Überzeugung, dass kontrollierte Trinken erst möglich wäre, „wenn Wege gefunden worden wären, dasDr. Christoph Schejda Suchtgedächtnis zu löschen.“ Diese Pille gibt es freilich derzeit noch nicht.
Auch Dr. Christoph Schejda, leitender Arzt der angesehenen Forel-Klinik in der Schweiz, ist kein großer Anhänger davon, den Alkoholkranken falsche Hoffnungen zu machen, sie könnten je wieder „normal“ trinken. „Die Forschung sagt, dass das für nur drei Prozent der Menschen mit einer Diagnose Alkoholabhängigkeit ein möglicher Weg ist“, so der Arzt zu „Alk-Info“. Kontrolliertes Trinken, erzählt Schejda weiter, käme nur für Menschen infrage, die „ganz klar strukturiert sind, die sagen, dass sie das umsetzen können und sich nicht auf emotionale Dinge einlassen.“ Doch welcher Alkoholiker, der sich jahrelang vergeblich vorgenommen hat, seine Trinkmenge zu reduzieren und der es gewohnt ist, Emotionen wie Ärger oder Trauer wegzuspülen, kann das schon?
„Wie mühsam muss das sein?“
„Jeder abnorme Trinker ist von dem Wahn besessen, er könne irgendwie, irgendwann sein Trinken kontrolliert zu genießen. Es ist erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit an dieser Illusion festgehalten wird. Viele bleiben dabei, bis sie die Schwelle des Irrsinns überschreiten oder den Tod vor Augen haben“, steht in den „Bibel“ der Anonymen Alkoholiker (AA), dem „Blauen Buch“. Kein Wunder also, dass man bei den AA vom Kontrollierten Trinken nichts hält. Ebenso wie Rolf-Dieter Bollmann, der, selbst ein trockener Alkoholiker, in Mallorca das „Genesungszentrum Finca Esperanza S.L.U.“ betreibt: „Wir Alkoholiker sind Männer und Frauen, die die Fähigkeit verloren haben, kontrolliert zu trinken. Wir wissen, dass kein Alkoholiker jemals wieder kontrolliert trinken kann“, schreibt er auf seiner Homepage (www.alkoholtherapie.net). Und weiter: „Wir sind Menschen, die ihre Beine verloren haben. Ihnen wachsen niemals neue.“ Ein paar zeilen weiter stellt Bollmann unmissverständlich fest: „Wie mühsam muss es sein sich beispielsweise sagen zu müssen: „Mittags ein Bier, dann um 7 Uhr ein Bier und dann noch eins nach dem Abendessen“. Wenn Sie mich fragen, dann ist mir dieser Kraftakt zu mühsam. Dann trinke ich lieber gar nichts.“
„Der falsche Weg“
Hermann Hofstätter, Leiter der Selbsthilfegruppe „Blaues Kreuz“ in Wien, sieht das ähnlich: „Kontrolliertes Trinken funktioniert, wenn überhaupt, nur bei einer ganz kleinen Minderheit, die noch nicht über eine lange Alkoholabhängigkeit verfügt.“ Hofstätter weiter: „In dem Moment, wo ich mir einrede, dass ich kontrolliertHermann Hofstätter trinkenmuss, heißt das ja, dass ich ein Problem habe, weil sonst brauch ich das ja nicht. Wenn ich aber immer rechnen muss, wie viel habe ich heute schon getrunken und wie viel darf ich noch, bedeutet das einen großen Verlust der Lebensqualität.“ Überhaupt komme die Botschaft falsch zu den falschen Leuten rüber, so Hofstätter zu „Alk-Info“: „Wenn jemand schon drei erfolglose Therapien hinter sich hat und der Fiktion unterliegt, dass er je wieder wird kontrolliert trinken können, dann ist das der falsche Weg. Beim kontrollierten Trinken kommt ja noch die Angst hinzu, wieder in das alte Trinkverhalten hineinzukippen. So nach dem Motto, wenn ich heute zu viel getrunken habe, trinke ich halt morgen etwas weniger, dann passt das schon. Und am nächsten Tag beginnt alles wieder von vorne.“ Man verlange, so Hofstätter weiter, von suchtkranken Menschen ein ungeheures Verantwortungsbewusstsein, was aber von vornherein ein großer Widerspruch sei.
Keine Befriedigung
Überhaupt komme für jemandem, der viel Alkohol gewohnt ist und nun reduziert trinken muss, ein großer Frust auf, so Hofstätter. „Das führt zu keinerlei Befriedigung des Trinkverlangens, da die Betroffenen nicht mehr die Menge bekommen, die sie bräuchten, um sich wohlzufühlen. Vergleichen wir es mal damit: Man hat fürchterlichen Hunger, bekommt aber nur ein Salatblatt zugeteilt und soll damit satt und zufrieden sein.“
Die leitende Psychologin der Kliniken Wied in Deutschland, Prof. Dr. Wilma Funke, sieht dies ähnlich. „Ich möchte zur Zeit als Behandler aber nicht die Verantwortung dafür übernehmen, einem Patienten, bei dem die Kriterien derProf. Dr. Wilma Funke Alkoholabhängigkeit – vor allem im chronischen Bereich – gegeben sind, anzuraten, kontrolliertes Trinken zu erlernen“, spricht sie aus langjähriger Erfahrung.
Die Diskussion rund um dieses Thema wird weitergehen, keine Frage. Man darf jedoch - und da sind alle Ärzte und Therapeuten gefordert, die kontrolliertes Trinken propagieren – nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass diese Therapieform wirklich nur für all jene ein Weg sein könnte, die zwar etwas zu viel trinken, aber noch nicht suchtkrank sind. Ansonsten werden Hoffnungen geweckt, die sich nie erfüllen werden. Dazu ein User eines Forums: „Hier wird zynisch und raffiniert der Fakt der Alkoholkrankheit pseudowissenschaftlich ad absurdum geführt und per kruder Logik, wenn nicht geleugnet, dann doch insgesamt angezweifelt.“

Web-Adresse: www.wilmafunke.de

Fotos: Thomas Frohnwieser (2), Harald Frohnwieser (1), Prof. Dr. Wilma Funke (1), Lammel (1)