Forel-Klinik in der Schweiz
Die Entdeckung der Abstinenz
von Harald Frohnwieser
Sie gilt als die Suchtklinik in der Schweiz schlechthin: 1888 von dem in Zürich lebenden Psychiater August Forel in Ellikon an der Thur als Trinkerheilstätte gegründet, ist sie heute eine moderne Therapieeinrichtung mit internationalem Standard. Hier wird Hilfe zur Selbsthilfe gefördert, die Sucht wird im Zusammenhang mit Schwierigkeiten persönlicher, familiärer und beruflicher Art und nicht als isoliertes Problem oder gar als Laster betrachtet. Und: Die Erreichung der Abstinenz ist oberster Grundsatz, fragwürdige Konzepte wie kontrolliertes oder reduziertes Trinken werden strikt abgelehnt. „Alk-Info“ sah sich im Klinikgelände um und sprach mit dem leitenden Arzt Dr. Christoph Schwejda u. a. über die Aufnahmebedingungen, über den Erfolg der Klinik sowie über die Rolle der Selbsthilfegruppen.
Der kleine Ort Ellikon an der Thur liegt zwischen Bodensee und Zürich inmitten einer idyllischen, leicht hügeligen Landschaft im politischen Bezirk Winterthur. Von der Bushaltestelle hinauf zur Klinik sind es zu Fuß nur ein paar Minuten, dann steht man vor einer Ansammlung von Gebäuden, die fast alle nach Bäumen benannt sind. Der Empfang im Haupthaus erinnert eher an die Lobby eines gediegenen Hotels als an eine Klinik, in der Suchtkranke behandelt werden. Es ist eine angenehme, wohltuende Atmosphäre fernab jeder Hektik. Ein Bildschirm kündigt wichtige Termine an, die Sitzecken laden zum Verweilen ein. Es ist eine Ruhe, die viele Alkoholiker wohl seit vielen Jahren, in denen sie hektisch von Schluck zu Schluck gehastet sind, erstmals wieder verspüren.
Dr. Christoph Schwejda ist leitender Arzt der Klinik und hat einige Jahre in einer Suchtklinik in München hinter sich. Insgesamt ist er seit mehr als 20 Jahren im Suchtbereich tätig. Erfahrungen, die ihn geprägt haben. Er identifiziert sich so wie wohl alle seine Kollegen voll mit der Haltung des Klinik-Gründers August Forel, wenn es um die Erreichung der Abstinenz geht. Und erzählt die Geschichte des Mannes, der 1848 in Morges geboren wurde.
Als Professor für Psychiatrie lebte und arbeitete Forel einige Jahre in Zürich, bis er eines Tages von einem Schuhmacher hörte, der in Ellikon an der Thur alkoholkranke Männer beherbergte. Was zur damaligen Zeit so gut wie unvorstellbar war, herrschte doch die Meinung, wenn man einem Alkoholiker seinen Stoff wegnimmt, wird er noch kränker. Forel wurde neugierig, fuhr nach Ellikon und ließ sich vom Schuhmacher erzählen, was hier passiert. Kurzum entschloss sich der Psychiater, der sich auch als Ameisenforscher einen Namen gemacht hatte, zum Selbstversuch. Er, kein Alkoholiker, aber einem Glas Wein nicht abgeneigt, lebte eine Zeitlang völlig abstinent. Und stellte fest, dass so manche Beschwerden, die ihn bis dahin plagten, wie weggeblasen waren. „Das war“, schmunzelt Schmejda, „die Entdeckung der Abstinenz.“ 1888 gründete August Forel seine Klinik auf dem Gelände des Schuhmachers, im Jänner 1889 zog der erste Patient für die Dauer von einem Jahr ein.
Aufnahmebedingungen
Heute befinden sich hier an die 100 Patienten, die an einer Sucht erkrankt sind. „Sie sollten aus der deutschsprachigen Schweiz stammen, damit sie mit den Ärzten und mit den Mit-Patienten zurecht kommen, denn wir sind sehr gruppenorientiert“, erklärt Christoph Schwejda. Die Patienten können natürlich auch aus anderen Ländern, vor allem aus Deutschland oder Österreich, kommen. Entscheidend ist aber, dass sie die deutsche Sprache beherrschen. Bei ausländischen Patienten muss aber die Bezahlung der Therapie geregelt sein. In der Regel sind das Selbstzahler. Zu den Aufnahmebedingungen zählt auch, dass der Patient, die Patientin seit sieben Tagen keinen Tropfen Alkohol getrunken hat und frei von süchtig machenden Medikamenten wie Benzodiazepine ist. „Wer das aber nicht schafft wird nicht fortgeschickt, der kommt in unsere Entzugsstation“, stellt Schwejda fest. Der Grund der einwöchigen Abstinenz ist schnell erklärt: „In der Therapie müssen die Patienten einen klaren Kopf haben, müssen Spaß am Malen, am Werken, an der Bewegung haben und sie müssen zuhören können - dem Arzt und auch den anderen Patienten in der Gruppe.“
Das Konzept in den Werkstätten wurde im Jänner 2014 angepasst. Es geht nicht nur um Arbeitstherapie, sondern um eine „Ziel- und Leistungsorientierte Therapie“ (ZLT). Es werden Patienten in den Werkstätten eingeteilt, die eine Störung der Feinmotorik aufweisen, unter vermindertem Antrieb leiden, ein eingeschränktes Selbstwertgefühl haben, erwerbslos sind/waren und bei denen Unklarheiten bezüglich der Arbeitsfähigkeit bestehen. Ziele der ZTL sind eine gezielte Förderung sowie eine Verbesserung der oben genannten Bereiche, eine Erfassung der Auffälligkeiten und eine Evaluation im zeitlichen Verlauf sowie eine Rückmeldung der Problembereiche an Patient und Therapeut. Schwejda: „Die Patienten kommen also nur dann in eine unserer Werkstätten, wenn eine entsprechende Indikation vorliegt. Gestartet wird immer mit einer sogenannten ,Einstiegsarbeit'.“ Das anbieten einer individuellen Therapie ist aufwändig, zählt aber zur Strategie des Hauses. Schwejda weiter: „Es ist nicht immer einfach, die Therapie individuell zu gestalten, wenn eine Struktur, eine Gruppe, einen Menschen aufnimmt und ihm dabei aber einen gewissen Raum offen lässt.“ Ziel ist, eine möglichst individualisierte Therapie für den einzelnen Patienten zusammenzustellen, das aus Basisangebote wie Einzel- und Gruppentherapie, Sport, Bewegung, Gestaltung besteht. Weiters gibt es störungsspezifische Angebote (Angst, Trauma, Depression, ADHS). „Wir versuchen, dass unsere Patienten so wenig Medikamente wie möglich brauchen“, so Schwejda.
Wer in der Werkstätte, in der Gärtnerei oder in der Druckerei arbeitet, brauchtet einen klaren Kopf, um das alles voll genießen zu lassen, was einem hier geboten wird. Irgendwie Luxus pur. So werden in der großzügig ausgestatteten Werkstätte unter Anleitung eines Werktherapeuten Schaukelpferde oder Spielzeugautos gefertigt – aus Holz, versteht sich. Und vieles andere mehr. In der Malwerkstätte entstehen kleine Kunstwerke und in der Gärtnerei können sich Naturliebhaber austoben. Besonders beliebt ist die Arbeit mit Tieren. Pressebetreuer Patrick Jola, der durch das Gelände führt, erzählt, dass es Patienten gibt, die mit einer kurz vor dem Werfen stehenden Ziege schon mal im Stall übernachtet haben, nur damit dem Muttertier samt Nachwuchs nichts passiert. Keine Frage, wer noch zugedröhnt ist im Kopf von Alkohol und starken Medikamenten hat keine Chance, all dies auf sich wirken zu lassen.
„Wir legen einen sehr großen Wert darauf, dass wir Sachen einsetzen wie Gruppentherapie, Psychotherapie und ärztliche Intention im Sinne von Aufklärung“, erklärt Christoph Schmejda das Konzept der Therapie. Obengenannte sind aber nur ein Teil davon. „Es gibt dann die Bereiche, wo wir die Kreativität fördern, wie etwa in der Gestaltungstherapie. Sehr bewährt gegen Depressionen hat sich die Bewegungstherapie, da haben wir schon sehr viel erreicht. Wenn die Patienten Bewegung in unserer schönen Natur machen, wenn sie raus gehen und sich auf eine Entdeckungstherapie, die sehr naturnah ist, einlassen, kann das Wunder bewirken.
Skeptisch gegenüber den Benzos
Apropos Medikamente. „Es kommt darauf an, welche Medikamente zu welchem Zeitpunkt an welche Patienten verordnet werden. Aber wir passen wir auf, dass keine Suchtverlagerung entsteht“, sagt Christoph Schmejda, für den es als Arzt klar ist, dass er das Beste sucht für jemanden, der zum Beispiel Duschschlafstörungen oder Angstzustände hat. Ihm ist bewusst, dass „Mittel zum Durchschlafen immer eine problematische Medikamentengruppe sind“. Deshalb werden sie auch nur für kurze Zeit und nur so lange sie absolut notwendig sind verabreicht. Benzodiazepine gegenüber steht Schmejda ohnehin sehr skeptisch gegenüber: „Wir haben hier keinen Patienten, der das nehmen würde.“
Offener betrachtet der Arzt den Umgang mit Antabus (das sind Tabletten, die man morgens einnimmt um keinen Rückfall zu erleiden. Denn wenn nach der Einnahme Alkohol getrunken wird, ergeht es dem Patienten körperlich sehr schlecht, Anm.). „Das ist ein fantastisches Medikament“, ist Schmejda überzeugt, räumt aber ein, dass die Tabletten nicht für jeden geeignet sind. „Die verordnen wir nur denjenigen, die viel Achtsamkeit haben und wissen, dass es ihnen sehr schlecht ergeht, wenn sie etwas trinken.“ Und weiter: „Das muss freiwillig erfolgen. Ich halte nichts davon, dass dem Alkoholkranken Antabus vom Partner oder vom Chef eingeredet werden.“ Der Mediziner räumt aber auch ein, dass es weltweit gelegentlich zu Todesfällen kam, die Forel-Klinik war freilich nicht davon betroffen. „Das waren aber Einzelfälle“, sagt er, „nur zum Vergleich: Alleine in Deutschland sterben statistisch gesehen jeden Tag 130 Menschen an den Folgen ihrer Alkoholabhängigkeit. Aber darüber schreibt niemand, das ist den Medien zu uninteressant und viel zu langweilig.“
Hat ein Patient, eine Patientin einen Rückfall, so wird versucht, diesen positiv aufzuarbeiten: „Es ist ein mühsamer Weg zur Abstinenz, den man sich erst erarbeiten muss“, weiß Christoph Schwejda. Aber: „Es gibt bei uns Grenzen. Alkoholkonsum in der Klinik wird von uns nicht toleriert, das wird von vornherein klar kommuniziert. Denn wer bei uns trinkt, gefährdet die anderen Patienten mit, deshalb wird das ganz klar in Form von einer Entlassung sanktioniert.“
Zwei bis drei Wochen Wartezeit
Ob auch die Angehörigen in die Therapie mit eingebunden werden? „Da könnten wir noch etwas besser werden“, gibt Christoph Schwejda zu, „wir hatten früher gut funktionierende Angehörigengruppen gehabt. Sogar ein Gästehaus war vorhanden, aber aus ökonomischen Gründen gibt es das leider nicht mehr. Das ist sehr schade.“ Das Gästehaus musste abgerissen werden, damit ein neues Bettenhaus mit 36 modernen Zimmern auf dem Areal Platz hat. Doch er blickt diesbezüglich optimistisch in die Zukunft: „Wir müssen wieder mehr Paargespräche anbieten in der Therapie. Das ist doch nur eine Frage des Konzepts.“
Wer in der Forel-Klinik aufgenommen werden möchte, braucht sich nicht all zulange in Geduld üben: „Wir haben einen Puffer von zwei bis drei Wochen, das ist gut so, denn ein bisschen Wartezeit ist durchaus sinnvoll. Zu lange darf es aber nicht dauern.“ Warum es so schnell geht? „Erstens sind unsere Kapazitäten ausreichend und zweitens sind wir in der Schweiz sehr gut vernetzt. Die Patienten bekommen sehr schnell einen sehr guten Halt bei einem der niedergelassenen Ärzten. Dazu kommen die vielen Beratungsstellen und Tageskliniken. Es gibt bei uns eine große Transparenz, und so bekommen die suchtkranken Patienten auch in den kleineren Gemeinden sehr schnell eine Unterstützung.“
In der Schweiz wird moderater getrunken
Um auf dem Laufenden zu sein schaut der Arzt sich immer um, was es Neues auf dem Markt gibt: „Wie schaut etwa die Entwicklung im Bereich der ambulanten Versorgung in anderen Ländern aus?“ Oder: „Welche neue Therapieformen werden derzeit erprobt?“ Was die Entwicklung bezüglich Jugendalkoholismus oder Alkohol bei Frauen in Deutschland oder Österreich betrifft, gehen auch hier in der Schweiz die Uhren etwas anders. „Die Patienten werden bei uns nicht jünger“, stellt Schwejda fest, „im Gegenteil, das Durchschnittsalter in der Behandlung nimmt bei uns eher zu, weil wir sehr viele Patienten mit 70 plus haben. Das ist eine neue Gruppe, Alter und Sucht ist in der Schweiz ein großes Thema.“ Alles in allem: „Ich habe den Eindruck, dass bei uns in der Schweiz etwas moderater getrunken wird.“
Was bei dieser Fülle an Beratungsstellen und Tageskliniken kein Wunder ist. Aber es liegt wohl auch daran, dass die Vorzeigeklinik, die von August Forel vor mehr als 125 Jahren gegründet wurde, höchsten Standard aufweist. Und eine Erfolgsquote von 50 Prozent für sich verbuchen kann.
Forel Klinik
8548 Ellikon an der Thur, Islikonerstrasse 5
Tel.: +41 (0)52/369 11 11
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Web-Adresse: www.forel-klinik.ch
Weitere Web-Seiten dieser Institution:
www.forelhaus.ch / www.weniger-trinken.ch
Fotos: Thomas Frohnwieser (9), Forel Klinik (1) Logo: Forel Klinik (1)