Suchtbehandlung in der Chinesischen Medizin
„Unsere Therapie ist allumfassend“
von Harald Frohnwieser
Auch in Asien ist eine Suchterkrankung keine Seltenheit, in Ländern wie Japan oder der Mongolei nimmt vor allem die Abhängigkeit vom Alkohol sehr stark zu (siehe auch „…dann reichen tausend Tassen nicht aus“). Doch während in unseren Breiten eine Sucht von der Schulmedizin meist mit Medikamenten und einer Psychotherapie behandelt wird, geht man in der Chinesischen Medizin ganz andere Wege. Hier setzt man vor allem auf Tees und Akupunktur. „Alk-Info“ hat mit dem bekannten Buchautor, Vortragenden und Arzt Dr. Florian Ploberger, der in China die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) studiert hat, über die vielseitigen Möglichkeiten einer TCM-Suchtbehandlung wie Akupunktur, Kräuterbehandlung oder Pulsdiagnostik gesprochen.
„Alk-Info“: Herr Dr. Ploberger, wie gehen chinesische Ärzte mit einer Suchterkrankung um?
Dr. Florian Ploberger: Das Suchtproblem ist natürlich auch in Asien bekannt, und insofern gibt es entsprechende therapeutische Ansätze, welche individuell und in Abhängigkeit von den Bedürfnissen des Einzelnen eingesetzt werden. Je nachdem, ob der Betreffende gerade mit dem Trinken aufgehört hat, etwas gegen Entzugserscheinungen benötigt oder körperliche Nebenwirkungen, die durch den Alkoholmissbrauch entstanden sind, beseitigt werden sollen, wird eine individuelle Therapie in Kooperation mit dem Patienten erstellt. Ein weiterer Ansatz ist, dass ein TCM-Arzt die Konstitution eines Menschen im Detail betrachtet. Wenn 100 Menschen zu einem TCM-Arzt kommen, dann gibt es 100 verschiedene therapeutische Konzepte.
Das ist extrem individuell.
Ja, das ist es. Wir würden auch niemandem die gleichen Akupunkturpunkte setzen oder die gleichen Ernährungsempfehlungen geben. Im Gegensatz zur Schulmedizin wirken alkoholische Getränke in der Chinesischen Medizin ganz unterschiedlich. Wenn jemand sehr viel Bier trinkt, dann wird er ganz andere Beschwerden haben als jemand, der Hochprozentiges trinkt. Alkohol ist nicht gleich Alkohol.
Was passiert zuerst, wenn man zu einem TCM-Arzt kommt?
Zu Beginn gibt es ein Gespräch sowie eine Diagnosefindung inklusive Zungen- und Pulsdiagnostik. In diesem Erstgespräch werden gemeinsam weitere Schritte besprochen. Diese hängen natürlich von der jeweiligen Befindlichkeit des Patienten ab. Bei Suchtpatienten muss zuerst einmal klar gestellt sein, dass der Patient wirklich eine Unterstützung in Anspruch nehmen möchte. Denn wenn er im Grunde gar nicht mit dem Alkoholkonsum Schluss machen möchte, dann wird es nahezu unmöglich sein, ihm zu helfen. Man kann beispielsweise Nadeln setzen, und zwar in die Suchtpunkte am Ohr, oder aber eine Körperakupunktur machen.
Was genau sind die Suchtpunkte?
Das sind Punkte, die, wie es sich herausgestellt hat, sehr effektiv sind bei Menschen, die mit Süchten zu tun haben. Wobei nicht unterschieden wird, um welche Sucht es sich handelt. Da gibt es neben den Nadeln, die man nur kurz einsetzt, auch kleine Dauernadeln, die aufgeklebt werden und zwei bis drei Tage am Ohr bleiben. Auch bei der Körperakupunktur gibt es Punkte, die einen Bezug zu unserer Psyche und natürlich auch möglichen Süchten aufweisen. Da gibt es zum Beispiel beruhigende und anregende Punkte, je nachdem, was der Patient gerade braucht (siehe auch „Mit fünf Nadeln im Ohr gegen den Alkoholismus“).
Für alle schmerzempfindlichen Patienten: Tun die Nadeln weh?
Nein, diese tun überhaupt nicht weh, weil die Nadeln ganz dünn sind. In China verwendet man dickere Nadeln, welche doch möglicherweise gut zu spüren sind. Chinesen haben scheinbar ein anderes Schmerzempfinden.
Gibt es nur die Akupunktur in der Behandlung?
Nein, wir behandeln allumfassend. In der Chinesischen Medizin gibt es einen Stufenplan. In der ersten Stufen wird das Verhalten des Patienten untersucht, was er zum Beispiel ändern könnte. Stufe Nummer zwei beinhaltet die Ernährungsempfehlungen, in der dritten Stufe kommt man zur Medizin, das sind bei uns Kräuter und in der vierten Stufe wird eine äußere Therapie angewendet, beispielsweise Akupunktur.
Wie reagieren die Patienten auf diese Therapie?
In den meisten Fällen sehr gut, da Menschen, die mit einer Sucht konfrontiert sind, häufig sensibel bzw. feinfühlig im positiven Sinne sind. Wenn man Sucht mit Sehnsucht gleichsetzt, dann ist hier ein riesiges Potential vorhanden. Man kann fragen, worauf die Sehnsucht abzielt, ob eine Sehnsucht vorhanden ist, sich geistig neu zu orientieren. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, worin man einen Patienten bestärken und begleiten kann. Denn Sehnsucht ist etwas sehr Kraftvolles und Positives.
Hat das nicht auch etwas mit einer Psychotherapie zu tun?
Wenn ein Arzt gut ist, dann behandelt er Körper und Geist gleich. Manche Menschen sind sehr extrovertiert, auch was ihre emotionale Verfassung betrifft und erzählen gerne, andere weniger. Ein guter Arzt wird beides gut behandeln können. Unsere Diagnostik besteht ja nicht nur aus der mündlichen Anamnese sondern auch aus Betrachtung sowie Tastung, beispielsweise des Pulses. Ein Patient muss nicht viel sprechen, um gut von einem TCM-Arzt diagnostiziert zu werden.
Sind die einzelnen Lebensgeschichten wichtig für die Therapie?
In China nicht. Dort schaut sich der Arzt die Zunge an, fühlt den Puls, stellt hierdurch eine Diagnose und behandelt den Patienten dementsprechend. Bei uns haben die Lebensgeschichten natürlich eine Relevanz, doch man kann sich nicht alles anschauen, weil das Spektrum einfach zu groß ist. Wichtiger ist, wie man mit der Vergangenheit umgeht und wie man sich mit ihr arrangieren kann. Die Frage ist ja, wie kann ich loslassen? Den Patienten zu stabilisieren, ist wichtiger, als in der Vergangenheit zu graben, weil dies oft viel zu traumatisch sein kann im Anfangsstadium einer Therapie. Die Vergangenheit kann erst aufgearbeitet werden, wenn der Betroffene stabil genug ist.
Wie lange dauert eine Suchtbehandlung?
Das hängt im Endeffekt nur vom Patienten ab. Solange er das Gefühl hat, dass eine Behandlung sinnvoll ist, wird behandelt. Selbstverantwortung ist ein wesentlicher Faktor. Man kann sich immer entscheiden, ob man den Arzt nur notfallmäßig konsultiert oder ob man in der Behandlung tiefer gehen möchte. Eine akute Behandlung mittels Akupunktur sollte regelmäßig in kurzen Intervallen durchgeführt werden. Hat sich der Zustand stabilisiert, reicht es meist, wenn man alle sechs Wochen zum Arzt geht.
Sie haben schon die Kräuter angesprochen. Wie werden die verabreicht?
Diese werden als Tee getrunken. Das Rezept wird vom Arzt an die Apotheke geschickt. Dort wird die entsprechende Mischung erstellt. Wobei Apotheken im deutschsprachigen Raum, so sie mit Kräutern arbeiten, etwa 450 chinesische Kräuter auf Lager haben. In China sind es bis zu 4000 verschiedene Kräuter. Aber auch mit unseren 450 verschiedenen Kräutern kann gut im Sinne des Patienten und auch kreativ gearbeitet werden, weil die entsprechenden Kräuter individuell zusammengestellt werden können.
Was bewirkt so ein Tee?
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann damit die Sucht bekämpfen oder auch die Regeneration fördern. Was natürlich bei jemandem, der eine Leberzirrhose hat, schwieriger ist als bei jemandem, der „nur“ eine Fettleber hat. Dazu kommt, dass man die Konstitution des Patienten generell verbessern kann. Symptome wie zum Beispiel Zittern, Schlaflosigkeit, Unruhezuständen, Antriebslosigkeit oder Depression, werden individuell in der Therapie berücksichtigt. In einer Suchtbehandlung ist vor allem der Schlaf sehr wichtig. Der Patient soll aber auch nicht unter Schmerzen leiden oder starken Juckreiz aufweisen, da all dies den Heilungsprozess blockiert.
Wie teuer sind diese Kräuter?
Sie sind relativ teuer. Handelt es sich um Kräuter aus China, so kann man mit ungefähr 50 Euro für ein paar Wochen rechnen. Heimische Kräuter, die nach TCM-Kriterien eingesetzt werden, kommen billiger. Die Kosten belaufen sich auf 15 bis 20 Euro für denselben Zeitraum (siehe auch „Westliche Kräuter – Aus Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin“).
Haben Menschen, die einen TCM-Arzt aufsuchen, grundsätzlich eine andere Einstellung zum Leben als solche, die davon nichts halten?
Sie sind auf jeden Fall daran interessiert, selber etwas zu Ihrer Gesundung beizutragen. Wie bereits erwähnt ist Selbstverantwortung hier ein wichtiger Faktor.
Spielen Religion oder Spiritualität eine Rolle in der Behandlung?
Der Patient braucht weder einen religiösen noch einen spirituellen Hintergrund. Es kann auch ein Atheist zu einem chinesischen Arzt gehen. Natürlich ist die Beschäftigung mit spirituellen Themen eine überaus kostbare Methode für jeden Menschen, unabhängig davon, ob eine Sucht vorliegt oder nicht. Ein geistiger Weg kann sich sicherlich positiv auf die Befindlichkeit jedes Einzelnen auswirken.
Sollte man als Suchtkranker zusätzlich noch eine herkömmliche Therapie machen?
Ich finde es immer gut, wenn man auf verschiedenen Ebenen ansetzt. Denn im Endeffekt ist nicht wichtig, was hilft, sondern dass geholfen wird.
Fotos: Thomas Frohnwieser (4)