Alkohol während der Schwangerschaft
Expertenrat: Auch kleine Mengen sind tabu

von Harald Frohnwieser

Noch immer glauben viele Frauen, dass es dem ungeborenen Kind nicht schadet, wenn sie hin und wieder ein Glas Alkohol während der Schwangerschaft trinken. Ein oft folgenschwerer Irrtum. Denn auch schon kleine Mengen Alkohol, die die werdende Mutter trinkt, können dem Kind schaden. Kleinwuchs, Kopf- und Gesichtsfehlbildungen sowie Hyperaktivität bis hin zur schweren geistigen Behinderung können die Folgen sein, die nicht behandelbar sind. Dabei müsste kein Kind an dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) leiden, wenn alle schwangere Frauen auf den Rat der Experten hören würden: „Null Alkohol während der Schwangerschaft!“ Denn auch kleine Mengen können dem ungeborenen Baby für immer schaden.

„Etwa 30 Prozent aller Frauen trinken während der Schwangerschaft Alkohol“Wenn er seine Leberknödelsuppe zum Frühstück nicht bekommt, kann er sehr zornig werden. Wenn er am Nachmittag nach Hause kommt und ihm niemand öffnet, weil die Familie sich an einem schönen Sommertag ein bisschen Sonne auf der Terrasse gönnt, weiß er nicht mehr weiter. Ums Haus herumzugehen und seine Familie zu suchen, kann er nicht. Und mit jeder Veränderung in seinem Leben ist er heillos überfordert. Michael ist 14 Jahre alt. Aber er ist kein Autist, wie man aus seinem Verhalten schließen könnte. Michael ist der Sohn einer Mutter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat und leidet am Fetalen Alkoholsyndrom (FAS).
Allein in Deutschland kommen pro Jahr mehr als 10.000 Kinder mit dieser Krankheit zur Welt, sagt jedenfalls die Statistik. Die Dunkelziffer könnte freilich noch weit höher sein, da FAS oft nicht richtig diagnostiziert wird. Mirjam Landgraf leitet im Haunerschen Kinderspital in München eine Spezialambulanz für Kinder, die während der Schwangerschaft Giftstoffen ausgesetzt waren. „Etwa 30 Prozent aller Frauen trinken während der Schwangerschaft Alkohol, manche nur ab und an ein Gläschen, andere bis zum Vollrausch“, berichtet die Ärztin aus ihrer langjährigen Erfahrung. „In fast jeder Kinderklinik gibt es heutzutage Stationen, in denen Kinder von Drogenabhängigen Müttern behandelt werden. Für durch Alkohol geschädigte Kinder hingegen gibt es noch Nachholbedarf“, bedauert Landgraf.
Dabei ist das Fetale Alkoholsyndrom noch vor dem Downsyndrom oder dem Autismus die am häufigsten angeborene Behinderung. Und ist die einzige, die zu 100 Prozent vermieden werden könnte, wenn alle Mütter während ihrer Schwangerschaft auf Alkohol verzichten würden. „Hin und wieder ein Gläschen Wein oder ein Bier zum Essen wird schon nicht so schlimm sein“, denken viele werdende Mütter. Doch sie irren sich. Denn es muss nicht immer ein Vollrausch schuld daran sein, wenn ein Kind mit dem FAS zur Welt kommt, auch schon kleine Mengen des Alkohols können das Ungeborene schwer schädigen. Besonders betroffen macht Experten, dass 72 Prozent der an FAS erkrankten Kinder ein leben lang betreut werden müssen.
Risiko steigt mit der Alkoholmenge
„Ob eine Schädigung eintritt, ist individuell verschieden und hängt auch davon ab, in welcher Entwicklungsphase sich das Nervensystem des Babys gerade befindet. Man muss jedoch davon ausgehen, dass das Risiko steigt, je mehr und je häufiger eine schwangere Frau Alkohol trinkt“, sagt Hermann Pramendorfer, Arzt und Fachgruppenobmann für Kinder- und Jugendheilkunde bei der Ärztekammer für Oberösterreich. Deshalb rät er werdenden Müttern auf Nummer sicher zu gehen und zur Gänze auf den Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft zu verzichten.
Ob ein Kind mit FAS leben muss, steht nicht immer gleich fest. Denn Merkmale wie Kleinwuchs oder Kopf- und Gesichtsfehlbildungen kommen eher selten vor. Viel häufiger seien weniger starke Schädigungen, bei denen man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen müsse, sagt Pramendorfer: „Viele alkoholbedingte Störungen äußern sich erst, wenn das Kind mehrere Jahre alt ist. Ein möglicher Zusammenhang zum Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft lässt sich nur selten eindeutig nachweisen.“ Nicht selten kommt es vor, dass Kinder mit FAS später zu Alkoholikern werden. „Die Wahrscheinlichkeit, selbst eine Sucht zu entwickeln, ist bei diesen Kindern und Jugendlichen signifikant erhöht“, so die Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin, Kerstin Jüngling. Immerhin werden rund 46 Prozent der Kinder mit FAS später süchtig. Kein Wunder, dass die Suchtexpertin ebenfalls für „Null Alkohol während der Schwangerschaft“ plädiert.
Keine gesicherte Harmolsigkeitsgrenze
Auch der Präsident der oberösterreichischen Ärztekammer, Peter Niedermoser, rät den Müttern, ab der Gewissheit, dass sie ein Kind erwarten, auf Alkohol zu verzichten: „Es braucht keine werdende Mutter in Panik zu verfallen, nur weil sie einmal einen Schluck Wein gekostet hat. Doch es ist empfehlenswert, während der Schwangerschaft auf Alkohol zu verzichten. Es gibt keine gesicherte Harmlosigkeitsgrenze, unter der Alkoholkonsum verlässlich unbedenklich ist.“
Besonders Frauen mit einem geringeren Bildungsgrad gehen eher sorglos mit dem Thema um. „Je niedriger der Bildungsgrad, desto schlechter wissen die Frauen über die Gefahren des Alkohols während der Schwangerschaft Bescheid“, so Kerstin Jüngling. Das Erschreckende dabei: Ganze 44 Prozent aller zukünftigen Mütter, die ein Kind erwarten, sind über dieses Thema nicht aufgeklärt. Der deutsche Kinderarzt Florian Heinen ärgert sich besonders darüber, dass eine Gesellschaft, die den Alkohol nicht nur toleriert, sondern als Mittel gegen den Stress überaus schätzt und einsetzt, so wenig über die möglichen Folgen von Alkohol während der Schwangerschaft weiß. Er glaubt nicht, dass nur die sogenannte ungebildete Unterschicht damit ein Problem hat: „Alkohol während der Schwangerschaft findet sich in allen Gesellschaftsklassen. Die gebildete, wohlhabende 30-Jährige trinkt im Durchschnitt sogar mehr als die ungebildete, mittellose Gleichaltrige.“ Eine Mindestdosis für schwangere Frauen gibt es für ihn nicht. „Man muss nicht betrunken durch die Schwangerschaft torkeln, um sein Kind zu schädigen“, ist er überzeugt.
Gleichaltrige Kinder ziehen sich zurück
Doch nicht nur die Kinder leiden unter dieser Krankheit, auch deren Eltern, wobei die meisten FAS-Kinder bei ihren Pflege- oder Adoptiveltern leben. Gleichaltrige Kinder ziehen sich von ihren Kindern zurück, was die Eltern meist sehr schmerzt. „Mein Sohn wurde auf dem Spielplatz nur noch der ,Beißer' genannt, weil er so aggressiv war“, so eine Adoptivmutter eines erst Neunjährigen. Ein anderer Junge ist 15, wiegt aber nur 35 Kilogramm und ist zudem Diabetiker. Und der mittlerweile 18-jährige Hannes muss ständig alles, wenn er von seiner Pflegemutter zum Einkaufen geschickt wird, vor sich ständig wiederholen, weil er sonst alles vergisst. Er kann sich maximal vier Dinge merken, mehr geht beim besten Willen nicht. Hannes hat den Körper und den Geist eines Kindes. „Ich bin so, weil meine Mutter Alkohol getrunken hat bevor ich auf die Welt kam“, sagt er. Dabei hat Hannes Glück – er hat gleich nach seiner Geburt eine aufopfernde Pflegemutter gefunden. Andere Kinder, die an FAS leiden, haben dieses Glück nicht und müssen ihr Leben lang in einem Heim oder einer Wohngruppe betreut werden. Dabei hätte dies alles nicht sein müssen, wenn ihre Alkohol trinkenden Mütter während der Schwangerschaft gewusst hätten, dass jedes Glas eine Gefahr darstellt. Und dieses Wissen auch umgesetzt hätten.

Grafik: Thomas Frohnwieser (1)

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