Bundespräsident Gauck gratulierte zum Jubiläum
Anonyme Alkoholiker in Deutschland
von Harald Frohnwieser
In den USA gab es sie schon seit 18 Jahren, in der damaligen Bundesrepublik Deutschland kannte man sie freilich noch nicht: Das erste Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA) fand am 1. November 1953 in einem Hotel in München statt. Waren die Anfänge noch sehr mühsam, so gab es in Spitzenzeiten an die 2.400 bis 2.700 Gruppen, die von etwa 25.000 Männern und Frauen, die den Wunsch haben oder hatten, mit dem Trinken Schluss zu machen, besucht werden. In Österreich wurde die erste AA-Gruppe 1960 in Wien gegründet.
Es war nur eine kleine, unscheinbare Notiz in der „Süddeutschen Zeitung“. Am 31. Oktober 1953 stand unter der Rubrik „Was Sie heute wissen müssen“ auf Seite zehn folgender Satz: „Die Vereinigung Alcoholics Anonymous hält morgen, 14 Uhr, im Hotel Leopold ihre erste Versammlung ab.“ Manche GIs, amerikanische Besatzungssoldaten, kannten die AA schon aus ihrer Heimat und fanden, dass es die Selbsthilfegruppe, die von einem Börsenmakler und einem Chirurgen namens Bill und Bob 1935 in Akron, Ohio, gegründet wurde (siehe auch „Ein Siegeszug rund um die Welt“), auch in Deutschland geben sollte. Doch das Land hatte acht Jahre nach dem Krieg andere Sorgen, als dem Alkoholismus den Kampf anzusagen. Der Wiederaufbau war noch nicht abgeschlossen, das Wirtschaftswunde hatte gerade erst begonnen, von Elend und Not wollte man nach dem Schreckensregime der Nazis sowieso nichts wissen. Heile Welt war angesagt und Alkoholiker galten als soziales Randproblem der unteren Schicht. Eine Minderheit eben. Dass auch erfolgreiche Menschen viel mehr Alkohol tranken als ihnen guttat, wollte man damals nicht wahrhaben.
Es waren nicht sehr viele Alkoholiker, die sich beim ersten deutschsprachigen Treffen der AA in München einfanden. Einer von ihnen war Werner, der sich später daran erinnerte: „Es war kurz nach 14 Uhr, als eine Gruppe amerikanischer Soldaten ihr erstes Meeting begann. Etwa 25 Menschen waren gekommen, darunter vielleicht zehn Deutsche. Einer der Amerikaner, sein Name war Bob ist (nicht einer der beiden AA-Gründer, Anm.), erklärte den neuen deutschen Freunden ein Programm, das bereits vielen tausend alkoholkranken Menschen in den USA, Kanada und auch in europäischen Ländern Genesung und Nüchternheit gebracht hatte. Woche für Woche trafen sich zunächst drei deutsche Alkoholiker mit ihren amerikanischen Freunden. Sie hießen Max, Heinrich und Kurt. Bob sprach nur Englisch, und Max übersetzte Satz für Satz.“
Eine schwierige Zeit
Der Anfang in der Bundesrepublik war schleppend. Richard, der bald nach dem ersten Treffen hinzukam, erzählte später von dieser schwierigen Zeit: „Wir waren jetzt sechs Mitglieder. Einen eigenen Meetings-Raum hatten wir nicht und trafen uns deshalb wöchentlich in Max' Wohnzimmer. Max, ein arbeitsloser Ingenieur, der von der Zwangsräumung bedroht und mit einer Frau verheiratet war, die sich aus ihrer verwüsteten Ehe in die Taubheit geflüchtet hatte, gehörte zu den wenigen Glücklichen, die beim ersten Kontakt mit den amerikanischen Freunden von der Lebensphilosophie des AA-Programms ergriffen war. Er blieb trocken und wurde unser Sponsor.“ Anmerkung: Sponsor ist eine Art Leiter der Gruppe, zu dem man aber auch mit privaten Problemen kommen kann, die man noch nicht vor den anderen Mitglieder der Gruppe auf den Tisch liegen will oder kann.
Etwas später hörte Manfred von der Gruppe. Manfred, der mit seiner Alkoholabhängigkeit nicht mehr zurecht kam, hatte sich versucht, mit Gas umzubringen. In einer Psychiatrie stieß er auf einen alten Mann, recht schweigsamen Mitpatienten. Bald erfuhr Manfred, dass der alte Mann ebenfalls ein Alkoholproblem hatte. Eines Tages erzählte der Mann Manfred von Max, der die AA-Gruppe in München leitete. „Das ist die einzige Möglichkeit, um in diesem Scheißleben noch mal vom Suff loszukommen“, so der sonst so verschlossene Alte und schrieb auf einen Zettel die Adresse von Max. Manfred steckte den Zettel zwar in seine Tasche, befasste sich aber nicht weiter weiter damit - er hatte sich längst aufgegeben.
„…dann werden Sie es eines Tages schaffen!“
Nach einer neuerlichen Einweisung in die Psychiatrie fand Manfreds Frau den Zettel in der Tasche und flehte bei einem Besuch in der Klinik ihren Mann an, nach seiner Entlassung die Gruppe aufzusuchen. Manfred berichtete später von seinem ersten Treffen mit Max: „Er war nicht sehr redselig an diesem ersten Tag, an dem wir uns sahen. Er hörte sich an, was meine Frau und ich uns gegenseitig vorwarfen, dann fragte ich ihn, was ich tun müsse, um aus diesem verdammten Suff herauszukommen. Er sagte, dass ich nichts weiter tun solle, als den Wunsch zu haben, den Alkohol loszuwerden. ,Dann werden Sie es eines Tages schaffen', sagt Max.“
Manfred blieb ein Jahr trocken, hatte aber, nachdem er erfuhr, dass Max, der wieder in seinem Beruf Arbeit finden konnte, 1963 unerwartet starb, einen Rückfall, der sehr lange andauerte. Als er im Jahr 1972 bei einem Treffen über sein großes Vorbild Max sprach, war er aber schon seit längerer Zeit wieder trocken.
Der deutsche Bundespräsident gratuliert
Die AA in Deutschland haben sich längst etabliert, mehr als 25.000 Menschen in Deutschland besuchen derzeit regelmäßig die Meetings. Dennoch hat die Selbsthilfegruppe Probleme in Deutschland, aber auch in Österreich, wo es AA seit dem Jahr 1960 gibt, und in der Schweiz (seit 1962). Von Überalterung der Mitglieder ist die Rede, Junge finden nur spärlich den Weg zur AA. Von den rund 1,3 Millionen Alkoholabhängigen, die es in Deutschland gibt, begeben sich nur zehn Prozent in eine Therapie, zu den AA gehen noch viel weniger.
Umso wichtiger ist es, dass der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck in einem Brief den Anonymen Alkoholikern in Deutschland gratulierte. „Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr uneigennütziges Engagement. Dafür, dass Sie anderen Kraft geben, sich aus der Abhängigkeit zu befreien. Anonyme Alkoholiker rufen nicht nach dem Staat. Sie appellieren an die Verantwortung des Einzelnen. Ihre Gruppen finanzieren sich durch Spenden, innerhalb der Organisation gibt es weder Ämter noch Posten. Dieses ehrenamtliche Engagement ist mir persönlich sympathisch, es ist vorbildlich für unsere Bürgergesellschaft“, schreibt er. Und weiter: „Besonders gut gefällt mir der Satz: ,Du allein kannst es, aber Du kannst es nicht allein.' Denn wer sein Leben selbstbestimmt führen will, der ist auf Beziehungen angewiesen.“ Und abschließend: „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie füreinander da sind, Dass Sie Hoffnung geben und ermutigen. Alles Gute zum Geburtstag!“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Infos: www.anonyme-alkoholiker.at / www.anonyme-alkoholiker.de / www.anonyme-alkoholiker.ch
Weitere Infos über englischsprachige Meetings in Europa unter www.aa-europe.net/meetings.php
Fotos: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1), Hotel Leopold GmbH (1) Logo: Anonyme Alkoholiker (1)
Zum Thema: „Bald nur noch Altspatzen im Seniorenclub?“