Anonyme Alkoholiker
„Mein Name ist…“

von Harald Frohnwieser

Zögerlich betritt ein Neuer den Raum. Männer und Frauen - alle Alkoholiker - versammeln sich um den Tisch, warten darauf, dass das Meeting beginnt. Wie er wohl aufgenommen werden wird, fragt sich der Neue. Aber er passt voll dazu - denn er will mit dem Trinken aufhören. Deshalb hat er sich entschlossen, ein Meeting der Anonymen Alkoholiker zu besuchen. Eine Erfahrung, vor der er Angst hat. Eine sehr große Angst sogar…

Es herrscht reges Treiben in dem kleinen Raum, die Zeiger der Uhr stehen kurz vor 19.30 Uhr. Herzliche Begrüßungen, Lachen, freundschaftliches Händeschütteln. Rauch schwebt über dem Tisch, an dem 15 Männer und Frauen Platz genommen haben, sich eine Tasse Kaffee einschenken oder ein Glas Wasser vor sich stehen haben. Ein Neuer betritt den Raum. Unsicher, fast ängstlich wirkt er. Was wohl jetzt auf ihn zukommen wird? Wird man ihn tadeln, weil er so oft in seinem Leben blau war? Wird man ihm sagen, dass er hier nicht hingehört, weil er ja noch nie in seinem Leben irgendwo hingehört hat? Die Aufregung kann er schwer verbergen. Doch dann die Erlösung.Anonyme Alkoholiker (AA) „Schön, dass du da bist“, sagt jemand zu ihm. Und lächelt dazu.Wann hat mich das letzte Mal jemand angelächelt, fragt sich der Neue. Eine Antwort darauf fällt ihm nicht ein, es ist einfach schon zu lange her.
Um Punkt 19.30 Uhr nimmt Franz, der seit vier Jahren trocken ist und ebenso lange die Meetings der AA besucht, ein Blatt zur Hand und liest die Präambel vor. Mit einem Mal ist es still geworden, alle hören zu, auch die, die diese Worte längst auswendig kennen: „Anonyme Alkoholiker sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen.“ Auch die nächsten Sätze, in denen festgestellt wird, dass die AA mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden ist, und dass es keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren gibt sowie die Tatsache, dass die einzige Voraussetzung für eine Zugehörigkeit der Wunsch mit dem Trinken aufzuhören ist, sind bekannt. Und trotzdem hören alle aufmerksam zu. Der Meetingssprecher beendet die Präambel mit dem Satz: „Mein Name ist Franz, und ich bin Alkoholiker.“ Dann stellt er drei Fragen: „Hat jemand ein Problem, über das er gleich reden will?“, „Will jemand ein Thema vorschlagen, über das heute geredet werden soll?“ und: „Will jemand statt mir das Meeting leiten?“ Helga meldet sich zu Wort: „Mein Name ist Helga, und ich bin Alkoholikerin. Wir haben einen Neuen in der Gruppe, der zum ersten Mal in einem Meeting ist.“ Franz überlegt nicht lange und schlägt vor, über den ersten der zwölf Schritte, die eine Art Anleitung für ein trockenes, zufriedenes Leben sind, zu sprechen.
Gegenwart und Vergangenheit
„Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten“. Franz sagt, dass ihm dabei die beiden unterschiedlichen Zeiten faszinieren – Gegenwart und Vergangenheit. „Dem Alkohol gegenüber bin ich machtlos, solange ich lebe, das wird für mich Tag für Tag eine Gegenwart bleiben.“
Dann erzählt er, dass es sehr lange es bei ihm gedauert hat, bis er zu dieser Erkenntnis gelangen durfte. „Ich war ein Kämpfer“, sagt er, „und wollte viele Jahre lang normal trinken so wie andere auch. Aber ich konnte es längst nichtLiteratur der AA mehr. Wenn ich auch nur einen Schluck getrunken hatte, musste ich weiter saufen, auch wenn ich mir fix vorgenommen hatte, diesmal nur das eine Glas Wein, das eine Glas Bier zu trinken. Diesen Kampf konnte ich ganz einfach nicht gewinnen.“ Dann erzählt Franz über seinen Absturz, beruflich wie privat: „Meine Ehe ging flöten, weil meine Frau so nicht mehr weiter leben konnte. Und meinen Job hatte ich schließlich auch verloren, nachdem mir mein Chef mehrmals gesagt hatte, dass ich mit dem Trinken aufhören soll.“
Der Meetingssprecher erzählt, wie er, nachdem Frau und Arbeit weg waren, Hilfe gesucht hatte: „Ich war bei Ärzten, bei Therapeuten, bei Psychiatern, aber keiner konnte mir helfen. Aber ich habe allen etwas vorgemacht, an mich kam niemand heran.“ Auch als er schon ganz unten angekommen war, als die Wohnungen, in denen er hauste, immer mieser wurden und er sogar, nur um sich Schnaps zu kaufen, betteln musste, konnte er noch nicht kapitulieren. „Irgendwann war mir klar, dass ich ein Alkoholiker bin, aber ich wusste nicht, wie ich aufhören konnte“, sagt er. Und: „Früher hatte ich die Säufer immer verachtet, jetzt war ich selber einer.“
Zusammenbruch
Als Franz ohnmächtig auf einer Parkbank aufgefunden wurde und in ein Krankenhaus kam, wurde er nach ein paar Tagen in eine Psychiatrie eingeliefert. Und hier geschah es – in einem der Räume gab es ein Informationsmeeting der Anonymen Alkoholiker. „Eigentlich schaute ich nur rein, weil ich ohnehin nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Aber was ich da hörte, hat mich fasziniert. Obwohl jeder der Anwesenden nur über sich sprach hatte ich das Gefühl, dass die von mir sprechen, so sehr hatte ich mich in diesen Aussagen wieder erkannt.“
Auch nach seiner Entlassung besuchte Franz weiterhin die Gruppen, mehrere Male pro Woche. „Das fantastische dabei war, dass ich den Alkohol nicht mehr brauchte. Anfangs ging es mir natürlich nicht sehr gut, aber ich wusste, dass ich am Abend in ein Meeting gehen konnte. Das gab mir Kraft zum Überleben.“
Heute ist Franz wieder voll im Leben, er hat einen neuen Job und eine neue Partnerin. „Ich konnte mein Leben nicht mehr meistern, aber das ist Vergangenheit. Und dafür bin ich unglaublich dankbar“, sagt er und seine Augen strahlen dabei.
Komm wieder!
Als Franz endet, melden sich die anderen Teilnehmer zu Wort. Jeder erzählt von seinem persönlichen Zusammenbruch und wie er es schaffte, wieder zu einem ausgefüllten Leben zu gelangen. „Ohne die AA, ohne deren Kraft, hätte ich es nicht geschafft“, sagt einer und die anderen nicken zustimmend. Was auffällt ist, dass jeder ausreden kann, dass niemandem ins Wort gefallen wird. Es gibt auch keine Kommentare zu den verschiedensten Aussagen und auch keine guten Ratschläge. Den Neuen scheint das ein wenig zu irritieren, man merkt ihm an, dass er verunsichert ist. Zum Schluss des Meetings wird er von Franz gefragt, ob er auch etwas sagen möchte, doch er verneint. Es ist Punkt 21 Uhr und Franz bedankt sich für das Meeting. Alle erheben sich, halten sich im Kreis rund um den Tisch an den Händen. Eine Art Gebet wird gesprochen: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das Meeting ist aus. Karin, die seit einem Jahr trocken ist, geht auf den Neuen zu, gibt ihm die Hand. „Schön dass du da warst“, sagt sie und Michael ergänzt: Komm wieder.“
Der Neue lächelt. Ob er wieder kommen wird? Er weiß es noch nicht, er muss diese 90 Minuten, in denen er so viel gehört hat, erst verarbeiten. Aber so ist es wohl den meisten ergangen, als sie das erste Mal ein Meeting der AA besuchten…

Infos: www.anonyme-alkoholiker.at / www.anonyme-alkoholiker.de / www.anonyme-alkoholiker.ch

Weitere Infos über englischsprachige Meetings in Europa unter www.aa-europe.net/meetings.php

Foto: Thomas Frohnwieser (1) Logo: Anonyme Alkoholiker (1)

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