Vom Laster zur Gebrauchsstörung
Alkohol als Begleiter durch Jahrtausende
von Werner Schneider
Alkohol begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden. Er wurde zum Teil verherrlicht, zum Teil verteufelt und verboten, aber er blieb allgegenwärtig. Prim. Univ. Prof. Martin Kurz, Leiter des Zentrums für Suchtmedizin an der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz, bezeichnet seine Anthologie der berauschenden Getränke als „Kulturgeschichte des Alkohols“. Tatsächlich werden in unseren Breiten Wein und Bier als Kulturgüter angesehen. Weniger „kulturell“ geht’s dann zu, wenn der Alkohol zur Sucht und somit zum persönlich gesundheitlichen und zum sozialen Problem wird. Auch darauf geht Kurz natürlich ein.
Gehen wir die Kontinente durch: China hatte Hirse- und Reiswein, Südostasien den Palmwein, Südamerika kennt seit Jahrhunderten die Vergärung von Honig, Maniok und Mais. Europa labte sich schon vor mehr als 2000 Jahren an Traubenwein (Griechen und Römer) und im Norden am Met. Der Rausch, den die alkoholischen Getränke hervorrufen, wurde in manchen Kulturen als mystische Funktion und als Anregung des Geistes angesehen. Man kannte aber auch die „unangenehmen“ Nebenwirkungen. Hieroglyphen des alten Ägypten zeigen Darstellungen vom Erbrechen und den Abtransport von Betrunkenen.
Bei den Wikingern gab es sogar eine Pflicht des Sich-Betrinkens. Es durften keine wichtigen Entscheidungen getroffen werden, solange nicht alle Teilnehmer der Versammlung berauscht waren. Keiner sollte den Vorteil des klaren Kopfes haben.
Im Mittelalter setzte in den Städten ein hoher Bierkonsum ein, der Gerstensaft galt quasi als Lebensmittel. Sehr zur Freude der Klöster, die meist ein Privileg aufs Bierbrauen hatten.
Im 13. Jahrhundert kam die Kunst der Destillation aus dem arabischen Raum nach Europa. Das „aqua vitae“ wurde ebenfalls von den Klöstern hergestellt und in Apotheken vertrieben (siehe auch „Es gibt auch das Genießen ohne Gefährdung“).
Ab etwa 1500 fand der Alkohol eine weite Verbreitung, war also nicht mehr lokal auf Städte beschränkt. Und damit kam es zum Problem, dass auch der Alkoholismus um sich griff. Um 1600 gab es bereits die ersten Trinkverbote.
Sucht als soziales Phänomen
Im 18. Jahrhundert gab es in England zwei Arten des Alkoholkonsums. Da sahen sich die wohlhabenden Bürger als gesellige Biertrinker, die dieses Getränk – siehe oben – als Kulturgut ansahen. Man assoziierte damit Gesundheit und Wohlstand, Belohnung der Tüchtigen, positive Stimulation und die Sucht galt als Tabu. Im Gegensatz dazu gab es die „Gin Epidemie“, ein Laster der unteren Bevölkerungsschichten. Damit wiederum wurden (zurecht) Krankheit, Gewalt und Tod, Betäubung, Sucht als soziales Phänomen und Profit durch Ausbeutung in Einklang gebracht.
Damals bildeten sich in England, den USA und in Skandinavien „Mäßigkeitsbewegungen“ (moral treatment) heraus.
Die Branntwein-Epidemie zeigte sich im 19. Jahrhundert als Alkoholproblem des Proletariats. Die frühen Sozialdemokraten, etwa der Arzt und Parteigründer Victor Adler, rieten daher der Arbeiterschaft vom übermäßigen Bier- und Schnapskonsum ab: „Der trinkende Arbeiter denkt nicht, der denkende Arbeiter trinkt nicht!“
Prohibition in den USA
Die USA führten 1920 die Prohibition ein, die sie bis 1933 durchhielten. Die Folgen waren unterschiedlich. Gewisse alkoholbedingte Erkrankungen gingen rapide zurück. Dafür stieg die Kriminalität, die Mafia entdeckte das Schwarzbrennen und den Alkoholschmuggel für sich und es kam zu einer Spitze bei den Morden.
Nicht nur im Dritten Reich, auch in Skandinavien waren von 1920 bis 1940 Zwangssterilisierungen von Alkoholkranken gesetzlich vorgesehen und wurden durchgeführt (siehe auch „Sterilisieren, ermorden, krepieren lassen“).
In den 60er Jahren kam es dann zur gesetzlichen Anerkennung von Alkoholabhängigkeit als behandlungsbedingte Störung.
So nebenbei entdeckte natürlich die Werbung den Alkohol für sich. Man warb mit Wein, den auch der Papst (sic!) angeblich gegen „Influenza“ (Grippe) empfahl. Oder es erschien in den 50er Jahren eine Anzeige mit einer Krankenschwester, die Bierflaschen serviert. Sinniger Text: „Was sagt die Wissenschaft? Berufene Vertreter der medizinischen Wissenschaft verordnen bei Erschöpfungszuständen, bei Überarbeitung, auch bei vielen ausgesprochen nervösen Erkrankungen Bier als Medizin.“ Zugleich wurde an Berufskraftfahrer mit großen Plakaten appelliert: „…meide den Alkohol, denk an die Folgen!“
Alkohol ist gefährlichstes Suchtmittel
Kommen wir zum Heute. Alkohol wird wieder in Kulturgut, Abstresshilfe und verteufelte Droge unterteilt. Wobei natürlich wieder keine klaren Grenzen zu ziehen sind. Wer zehn Modegetränke (Aperol Spritz, Hugo usw.) zum „chillen“ benötigt, bedient sich nicht mehr eines Kulturgutes sondern steuert auf die Abhängigkeit zu. Alkohol als Droge wird landläufig wieder gerne (fälschlich) bei den bildungsferneren oder sozial niederen Schichten angesiedelt.
Der ehemalige britische Drogenbeauftragte David Nutt hat den Alkohol unter allen Suchtmitteln, was die Gefährlichkeit angeht, an erste Stelle gereiht. Erst dann kommt bei ihm Heroin (siehe auch „Der Rausch aus der Retorte, der eigentlich keiner ist“). Da spielen viele Faktoren mit. Da ist einmal die freie Verfügbarkeit. Nicht zu vergessen die neurobiologische Wirkung: Euphorie, Enthemmung, Dämpfung oder Stressreduktion. Alkohol als „Medizin“. Ebenso wichtig sind aber auch Genetik, Lebensgeschichte und Milieu.
Wenn Alkohol zum Problem wird
Wann reden wir heute von einer „Alkohol–Gebrauchs–Störung“? Hier seien nur einige Punkte herausgegriffen:
Konsum größerer Alkoholmengen ist über einen längeren Zeitraum beabsichtigt. Dem stehen der dauerhafte Wunsch bzw. erfolglose Versuche, den Alkoholkonsum zu beenden oder zu kontrollieren, gegenüber. Viel Zeit geht dafür auf, den Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von seiner Wirkung zu erholen. Es folgen Krankenstände, schlechte Arbeitsergebnisse, Vernachlässigung von Kindern und Haushalt. Im Extremfall Gefährdung von sich selbst und anderen durch das Autofahren oder Bedienen von Maschinen in betrunkenem Zustand. Am Schluss stehen Entzugserscheinungen und das starke Verlangen ständig Alkohol zu konsumieren („Spiegeltrinker“).
Hilfe ist heute leichter annehmbar als noch in früheren Jahrzehnten. Es gibt modernste Entzugskliniken mit anschließender psychologischer Betreuung. Früher landete man in der Irrenanstalt. Und noch heute wird das – selbst von medizinisch geschultem Personal! – verwechselt. So schrieb das Team eines Rettungswagens auf den Begleitschein eines Patienten mit Alkoholvergiftung: „Verwahrung (sic!) höflich erbeten.“